Wenn über die Rolle der Kultur beim Aufbau der Europäischen Union nachgedacht wird, wird oft Jean Monnet (Karlspreisträger 1953) zitiert, der im hohen Alter sagte: „Wenn ich noch einmal anfangen sollte, würde ich von der Kultur her anfangen“. Und in der Tat: Die wirtschaftliche und politische Integration Europas ist mit der Vollendung des Binnenmarktes weit fortgeschritten. Darüber hinaus steht die Erweiterung um die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas sowie die Vertiefung der Union und ihres strukturellen Zusammenhalts auf der Tagesordnung.
Die menschliche Integration Europas ist jedoch im Bewusstsein wie in der Praxis unterentwickelt. Hier kommt der Kultur als pragmatischster Ebene der Begegnung und des Austauschs eine besondere Bedeutung für das „Gemeinsame Haus Europa“ zu. Europa ist ein kulturpolitisches Ganzes, vereint durch das gemeinsame Erbe des Christentums, aber auch der besonderen europäischen Impulse der monotheistischen Religionen des Judentums und des Islams, der Renaissance und der Aufklärung sowie den großen philosophischen und sozialen Lehren des 19. und 20. Jahrhunderts. In diesem kulturellen Erbe liegt ein enormes Potential für eine Politik des Friedens, der Verständigung und der gutnachbarlichen Beziehungen. Kultur ist auch ein Mittel zur Einübung der Demokratie, deren Wurzel wir in Europa haben. Sie schafft menschliche Verbindungen, weckt Toleranz für andere Kulturen und für andere Menschen.
Die Vision eines gemeinsamen Europas war und ist die Hoffnung und Zielperspektive, die aus gemeinsam geteilten Werten und einem europäischen Verantwortungsbewusstsein resultiert, die über die alltägliche Politik weit hinausreicht. So heißt es bereits in der Proklamation des Internationalen Karlspreis von 1949: „Da die Fortschritte der Menschheit immer von einzelnen genialen Persönlichkeiten ausgegangen sind, die sich trotz aller Widerstände ganz ihrer Idee verschrieben haben“, gelte es, auf diese Persönlichkeiten „als Vorbilder hinzuweisen, zur Nachahmung und zu Verwirklichung ihrer Ideen aufzufordern“. Unsere europäische Identität hat ihre Wurzeln dabei gerade in der Vielgestaltigkeit der nationalen und regionalen Kulturen. Damit diese Vielfalt uns aber bereichert und nicht etwa Auseinandersetzungen begründet, brauchen wir bessere wechselseitige Kenntnisse der Geschichte, Traditionen, Sprache und Gewohnheiten unserer Nachbarn. Wenn wir die anderen wahrnehmen und verstehen, lernen wir auch etwas über unsere eigene Identität. Europa wird in dem Maße zusammenwachsen, in dem das Bewusstsein dieser kulturellen Einheit, einer Einheit in Vielfalt, wächst.
Eine in diesem Sinne herausragende Persönlichkeit der europäischen Kultur, die Freiheit und Verantwortung stets ins Zentrum ihrer Betrachtung rückt, die auch über ihr literarisches, journalistisches und wissenschaftliches Tätigkeitsfeld hinaus Position bezieht und sich in der Tradition der europäischen Aufklärung im besten Sinne des Wortes „einmischt“, ist der ungarische Schriftsteller, Soziologe und Psychologe György Konrád. Dieser „homme des lettres“ ist nicht nur ein ausgezeichneter Repräsentant der ungarischen Kultur. Die Motive und Inhalte seines literarischen Schaffens sind vielmehr eingebunden in das Bewusstsein der supranationalen europäischen Kultur und Geschichte.
Der 1933 als Sohn eines jüdischen Eisenwarenhändlers in Debrecen nahe der rumänischen Grenze geborene Konrád, der einen großen Teil seiner jüdischen Familie während der nationalsozialistischen Judenverfolgung verlor, überlebte durch die Flucht zu Verwandten nach Budapest.
György Konrád ist ein politischer Schriftsteller sui generis: Schreiben ist für ihn eine Form der gesellschaftlichen Intervention. Telos seiner politischen Essays wie seiner Romane sind Freiheit und Menschenwürde. Darum begrüßte Konrád emphatisch den demokratischen Aufbruch in Mittel- und Osteuropa. Er veröffentlichte 1969 seinen ersten Roman „Der Besucher“, mit dem er schlagartig international bekannt wurde. Sein sozialkritischer Impetus führte zur ständigen Beobachtung durch die Kommunistische Partei Ungarns. Aufgrund seiner kritischen Essays wurde er 1974 am Jahrestag der ungarischen Revolution von 1956 verhaftet, die angebotene Ausreise lehnte Konrád ab und wurde „Pseudopsychologe“ in einer Nervenheilanstalt.
Mit der soziologischen Studie „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht“ (1978) beginnt die große Essayistik. Die Rolle des Oppositionellen; Rekonstruktion und Beschwörung der Zivilgesellschaft; die Vision von Mitteleuropa gegen die geteilte Welt von Jalta. Ein Leben zwischen wachsendem Ruhm im Westen und Publikationsverbot in Ungarn; zwischen Auszeichnungen und Stipendien, Samisdat-Produktion und dem Schmuggeln der Manuskripte.
Insbesondere plädierte György Konrád in dieser Zeit für eine stufenweise und vertraglich geregelte Befreiung Osteuropas im Rahmen eines freien und unabhängigen Europas. Damit erntete er eisige Ablehnung bei Kollegen aus dem Ostblock und scharfe Kritik aus Budapest. Eine weitere Verschärfung trat ein, als sich Konrád offen für die polnische Gewerkschaftsbewegung „Solidarnosc“ einsetzte und 1984 mit dem hochdotierten Herder-Preis ausgezeichnet wurde. Als Schriftsteller machte er 1985 mit dem politisch-moralischen Essayband „Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen“ erneut auf sich aufmerksam: „Antipolitik, das ist die moralische Beurteilung der Politik. Die Moral selbst kann nicht die Politik ersetzen, im Sokratesschen Sinne aber kann sie der Dämon der Politik sein, ihr Alpdrücken, ihr schlechtes Gewissen, die Traumarbeit der Politik kann sie sein“. Dieses Buch trug nicht unwesentlich zur demokratischen Erneuerung in Ungarn Ende der 80er Jahre bei. Mit der demokratischen Wende in Mittel- und Osteuropa sah sich Konrád in seiner Ansicht bestätigt, der „gefährliche und primitive Zustand des bipolaren Weltmodells“ sei nur von der Mitte aus zu überwinden. Als vorrangig stufte Konrád anschließend jene Probleme ein, die sich aus dem wachsenden Nationalismus und aus dem in Europa herrschenden ökonomischen Ungleichgewicht ergaben.
Seiner Meinung nach besteht die große Aufgabe Europas heute darin, sich seiner kulturellen Gemeinsamkeiten und Wurzeln wieder bewusst zu werden. Dieses Europa, es hat ein tragfähiges Fundament, auf dem wir aufbauen können. Und diese Gemeinsamkeit schließt Besonderheit, also etwa nationale Eigenheiten, nicht aus, im Gegenteil. Das gemeinsame Europa muss eines sein, das Vielfalt nicht nur duldet, sondern ausdrücklich wünscht. Osteuropäer und Westeuropäer können voneinander im Interesse Europas nur lernen: Endlich ist es möglich, sich wechselseitig mit Geschichte, mit kulturellen Traditionen, mit Literatur, Musik, Film auseinanderzusetzen: ohne Zensur und ohne Bevormundung.
Im Mai 1990 wurde György Konrád in das Amt des Präsidenten des Internationalen PEN-Clubs gewählt, das er bis 1993 innehatte. Im Oktober 1991 erhielt er in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der Stiftungsrat würdigte damit Konráds Denken und Schreiben, das sich von Beginn an „auf die Überwindung der aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Teilung Europas“ gerichtet habe.
Für viele ist er eine moralische Instanz geworden, ein außergewöhnlicher Mensch, dessen warmherziges, mitfühlendes Wesen und dessen Menschlichkeit sich spontan mitteilen. Die Literatur ist für ihn ein Medium, um Völker und Zivilisationen einander näherzubringen. György Konrád hat als europäischer Humanist, als Weltbürger und Brückenbauer für Gerechtigkeit und Versöhnung und damit für das Zusammenwachsen Europas gewirkt.
Seine Auffassung von der menschlichen Gesellschaft und das Streben nach politischen und moralischen Werten münden in einer allumfassenden Toleranz gegenüber allen Lebensweisen und -auffassungen. Liebe, Mitgefühl und Solidarität sind Werte, die er nachdrücklich verkörpert. Insofern vertritt er im besten Sinne des Wortes die Werte, die Europa mit dem Zeitalter der Aufklärung verbindet.
Frieden ist eine zentrale Bedingung, die Erde bewohnbar zu erhalten. Für György Konrád ist Friede kein Wert an sich, sondern ein ständiges Wirken, ein unermüdliches, unverzagtes Bemühen. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Frieden herrscht dann, wenn geistige Auseinandersetzung ohne physische und psychische Gewalt möglich ist, wenn Streit mit Argumenten, nicht mit Zensur und Schlagstöcken ausgetragen wird. „Der Frieden ist mächtiger als der Krieg, denn das meiste innerhalb des täglichen Lebens steht auf der Seite des Friedens“, so György Konrád. Er kämpfte gegen Ressentiments und warb um Toleranz. Er hat mit dazu beigetragen, dass sich die Beziehungen der Völker freundschaftlich weiter gestalten und der Geist des Misstrauens, der Furcht und der Befangenheit zurückgedrängt wurde.
Europa ist auch ein intellektueller Prozess, in dem nicht die Zufriedenheit mit der jeweiligen Gegenwart, sondern vielmehr die Hoffnung und Ahnung einer besseren Zukunft im Mittelpunkt stehen. Viele Träume haben einen Namen, der Europa heißt. György Konrád formuliert ihn so: „Europäer sind wir durch innere, komplexe Gehirntätigkeit, durch die flexible Handhabung unserer inneren Paradoxa, durch unser Vergnügen an der Formenvielfalt, durch die Verwandlung des Abwechslungsreichtums unserer Rollen in schöpferischer Spannung, Europäer sind wir dadurch, dass wir für andersartige Kulturen Verständnis haben beziehungsweise intellektuelle Sympathie und dass wir darauf vertrauen, uns dadurch nicht zu verlieren.“
Seit Mai 1997 ist György Konrád Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Künste. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen: „Der Besucher“ (1973), „Der Stadtgründer“ (1975), „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht“ (1978), „Der Komplize“ (1980), „Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen“ (1985), „Geisterfest“ (1986), „Stim-mungsbericht“ (1988), „Melinda und Dragoman“ (1991), „Melancholie der Wiedergeburt“ (1993), „Heimkehr“ (1995), „Identität und Hysterie“ (1994), „Steinuhr“ (1995), „Vor den Toren des Reichs“ (1997). György Konrád lebt mit seiner Ehefrau Judit Lakner in Budapest; gemeinsam haben sie zwei Söhne und eine Tochter.
Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen ehrt mit György Konrád einen europäischen Schriftsteller und Essayisten von Weltrang, der Zeit seines Lebens im Sinne eines engagierten Aufklärers für das Zusammenwachsen Europas und für die Errichtung von offenen Gesellschaften schriftstellerisch, kulturpolitisch und essayistisch gestritten hat, ohne dabei persönliche Entbehrungen und Freiheitsentzug zu fürchten.
Mit der Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen 2001 an György Konrád soll zugleich die enorme Bedeutung und Leistung der Schriftstellerinnen und Schriftsteller für das „Gemeinsame Haus Europa“ betont werden und dies vor allem auf dem Hintergrund der medialen Verflochtenheit der Welt, in der vielfach Beschleunigung und nicht gedankliche Tiefe zunehmen. Sein Leben und sein Werk bilden eine großartige, harmonische Einheit, deren Wirkung über die Grenzen zwischen Staaten und Völkern, zwischen Ideologien und Konfessionen reicht. Sein schriftstellerisches Werk hat dazu beigetragen, im Geiste der Völkerverständigung und Friedenswahrung Verständnis für die besonderen Voraussetzungen des jeweils anderen Partners zu wecken. Wie kaum ein anderer Intellektueller ist György Konrád geeignet, den Menschen in Europa - Ost wie West - die aus den gemeinsamen Werten resultierenden Aufgaben zu verdeutlichen, die in der noch kürzlich beschlossenen Grundrechte-Charta einen vornehmen Ausdruck gefunden haben