Rede von Gro Harlem Brundtland

Rede von Gro Harlem Brundtland

Vielen Dank, Herr Oberbürgermeister, für Ihre Ausführungen.
Vielen Dank, Rund Lubbers, für Deine freundlichen Worte.
Ich danke auch der Stadt Aachen für den außerordentlich freundlichen Empfang und die große Ehre, die mir gegenüber zum Ausdruck gebracht wurde.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
Exzellenzen,
hochverehrte Gäste,

als ich die Mitteilung erhielt, daß das Direktorium des Karlspreises mich als diesjährigen Preisträger ausersehen hatte, befanden wir uns mitten in einer Phase umfassender Verhandlungen über den Beitritt Norwegens zur Europäischen Union. Ich dachte an die besondere Situation, die sich ergeben hätte, wenn wir heute hier versammelt wären, ohne daß die Verhandlungen mit Norwegen hätten abgeschlossen werden können. Mir wurde klar, daß wir Norweger uns in jedem Fall in einer Phase der starken Bewußtmachung über die Bedeutung Europas befinden würden und daß die Frage der Zukunft der Europäischen Union, der Umfang der Union und ihre Prioritäten zu den brennendsten Fragen unserer Zeit gehören.

Wir stehen vor einer möglicherweise völlig neuen Epoche der europäischen Geschichte. Vier grundsolide Demokratien stehen am Tor zur Europäischen Union. Eine weitere Erweiterung nach Osten wäre das Ergebnis eines demokratischen Quantensprungs in Europa und wirkt gleichzeitig begünstigend darauf ein. Die Europäische Union ist im Begriff, zu eben der gesamteuropäischen Zusammenarbeit zu werden, von der viele geträumt haben.

Unsere gesamteuropäische Geschichte handelt von Frieden und Unfrieden, von Handel und Impulsen zwischen Völkern und Regionen, von Bündnissen und Allianzen, von Religionsstreit und Einigung. Heute sind wir der Situation näher als je zuvor, daß ganz Europa sich politisch organisieren und eine Rechtsordnung schaffen kann, die Sicherheit und Zukunftshoffnung geben kann.

Ein geschichtlicher Rückblick zeigt, daß Norwegen zeitweise die europäische Geschichte nur als Zuschauer mitgemacht hat. Doch die Änderungen in Europa haben stets die Entwicklung auch in meinem Land beeinflußt. In der Regel hat Norwegen sich kulturell und wirtschaftlich am stärksten entwickelt, wenn die Verbindungen zu Europa am stärksten waren.

Heute kann das norwegische Volk frei wählen, ob wir der Europäischen Union als gleichberechtigter Partner beitreten sollen. Die diesjährige Verleihung des Karlspreises sehe ich in erster Linie als einen Ausdruck dafür, daß Norwegen, die norwegische Wirklichkeit und das norwegische Volk in der Union willkommen geheißen werden.

Es ist eine verbreitete und zutreffende Auffassung, daß viele meiner Landsleute der Europäischen Union skeptisch gegenüberstehen und nur zögernd diese Möglichkeit ergreifen wollen. Ich möchte versuchen geschichtlich zu erklären, warum Norwegen sich nur schrittweise der Zusammenarbeit in der Europäischen Union angenähert hat - wer wir sind und was wir wollen.

In dieser Stadt, der Residenzstadt Karls des Großen, scheint es nur natürlich, zunächst einmal ganz weit bis ins neunte Jahrhundert zurückzublicken. Denn es war kurz nach der Epoche Karls des Großen, in den achtziger Jahren des neunten Jahrhunderts, daß Norwegen ein Staat wurde. Nordische Wikinger durchpflügten bereits die Meere und drangen tief ins Herz Europas vor. Sie gründeten den slawischen Staat in Kiew, wurden mit großen Ehren in Konstantinopel empfangen und segelten bis nach Nordamerika. Der norwegische König Harald Hardráde überfiel die Mittelmeerländer und eroberte zahlreiche Städte in Sizilien. Die Mönche in der Bretagne beteten dafür, vom Zorn der Normannen verschont zu bleiben.

Langsam wichen ihre kaum segensreichen Plündereien jedoch einem Lernprozeß. Handwerke, Gesetze, kulturelle und politische Ideen sickerten zurück in den Norden nach Norwegen.

In der frühesten Periode der norwegischen Christianisierung gehörte die Kirche in Südnorwegen zum Erzbistum Hamburg/Bremen. Weniger als drei Jahrhunderte nach Karl dem Großen war Norwegen so stark in die europäische Kultur integriert, daß Händler, Handwerker und Pilger als häufige Gäste auf unseren Marktplätzen und in unseren Städten anzutreffen waren. Die bekannteste davon war Nidaros, das heutige Trondheim, wo seit dem Jahre 1031 der Schrein des norwegischen Schutzheiligen St. Olav steht. Bundespräsident von Weizsäcker kennt ihn. Wir waren bereits gemeinsam in der Kathedrale von Trondheim.

Die Norweger hatten aber immer noch viel zu lernen. Ein Führer für norwegische Pilger, der etwa aus dem Jahre 1150 stammt, stellt denn auch fest: "Im Sachsenlande leben gar höfliche Leut' - und es ist zu der Nordmänner Nutz und Frommen, sie nachzuahmen und von ihnen zu lernen."

Im 14. Jahrhundert schwächte die Pest die Bevölkerungsbasis Norwegens. Gleichzeitig brachte die dynastische Thronfolge Norwegen unter die Herrschaft des Königs von Dänemark. Dieser Prozeß wurde 1536 abgeschlossen, als der Dänenkönig den norwegischen Staatsrat auflöste und anordnete, daß die norwegische Kirche mit Rom brechen und lutherisch werden solle.

Nun folgten etwa 300 Jahre der Kolonialerfahrung, bis der König von Schweden 1814 im Rahmen der post-napoleonischen Neuordnung in Europa Norwegen als Teil seiner Beute bekam.

Im Frühjahr des Jahres 1814 kamen gewählte Vertreter aus allen Regionen Norwegens zusammen, um eine moderne, stark von der amerikanischen und der Französischen Revolution geprägte Verfassung zu verabschieden. Diese Verfassung ist immer noch in Kraft, doch es sollten noch weitere 90 Jahre vergehen, ehe unser Land 1905 den Verbund mit Schweden aufhob und wieder als wahrhaft souveräner Staat in Erscheinung trat. Diese Souveränität wurde nach langem Kampf und sorgfältigem Manövrieren zwischen den europäischen Großmächten erreicht.

Mit seiner neu gewonnenen Unabhängigkeit gehörte Norwegen zu den ärmsten Ländern Europas. Wir waren schwach und unsicher - aber reich an nationaler Identität und der Willenskraft, unsere gerade erst zurückeroberte Souveränität zu verteidigen. Gestärkt wurde unsere nationale Identität durch die Polarforscher Nansen und Amundsen. Interpretiert wurde sie durch Schriftsteller und Komponisten wie Ibsen, Björnsson und Grieg. Im Jahre 1922 war Ibsens Epos "Peer Gynt" das am häufigsten aufgeführte Drama auch den Bühnen der deutschsprachigen Welt.

Die Notwendigkeit, für unsere alte Nation und unseren jungen Staat Akzeptanz bei allen wichtigen Mächten Europas zu finden, war der Hauptgrund für Norwegens Neutralitätspolitik, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgegeben wurde. In die Periode der Nachkriegszeit sind wir müde, arm und überlastet eingetreten - aber als Nation geeinter denn je.

Im Gegensatz zu Mitteleuropa zog die Rote Armee sich nach der Befreiung von Teilen Nordnorwegens tatsächlich ganz zurück. Doch der sowjetische Würgegriff, in dem sich Polen, Ostdeutschland, die Tschechoslowakei und mit ihnen ganz Osteuropa befanden, veranlaßte uns, unsere Neutralitätspolitik aufzugeben und 1949 Gründungsmitglied der NATO zu werden. Dies war möglicherweise die tiefgreifendste Entscheidung in unserer Nachkriegsgeschichte bis zum heutigen Tage.

In den fünfziger und sechziger Jahren orientierte sich unsere internationale wirtschaftliche Ausrichtung stark an der des Vereinigten Königreichs. Dies spiegelten unsere Handelsstrukturen, unsere starken, geldpolitischen Verbindungen zu Sterling und zum Dollar sowie unsere Abhängigkeit von der Schiffahrt wider. Wir traten der EFTA bei und beantragten unsere Mitgliedschaft in der EG parallel zu Großbritannien und Dänemark. Dann kam die Volksbefragung von 1972 mit ihrem knappen "Nein" zur EG-Mitgliedschaft. 53 Prozent stimmten mit "Nein". Im nördlichen Teil Norwegens, wo Generationen hart gekämpft hätten, um dem Meer ihren kargen Lebensunterhalt zu entreißen, stimmten mehr als 80 Prozent dagegen.

In diesen arktischen Regionen hatten Väter und Großväter in ihren kleinen Ruderbooten der Natur mit Fischfang einen eher bescheidenen Lebensunterhalt abgerungen. Ganze Familien hingen total vom Fischfang ab - was diese Regionen heute übrigens immer noch tun. Damals - 1972 - hätten sie Angst, daß ausländische Fischdampfer daherkommen und ihnen ihre traditionellen Fischgründe leerfischen würden. Die EG hatte ihnen nicht zugesichert, daß dies nicht passieren würde.

Dies war auch die Zeit, als die Ära des Erdöls noch in den Kinderschuhen steckte und viele Norweger meinten, daß diese Ressourcen dem Lande am ehesten zugute kämen, wenn es außerhalb der EG bliebe.

Die öffentliche Diskussion in Norwegen im Vorfeld der Volksbefragung wurde mit äußerster Härte geführt, entzweite Familien und Freunde und hinterließ Wunden bei den politischen Parteien - einschließlich meiner eigenen. Es wurde klar, daß jeglicher Versuch, die EG-Mitgliedsfrage wieder auf die Tagesordnung zu setzen, von einem überaus gründlichen, demokratischen Prozeß vorbereitet werden mußte.

1985 zeichnete sich ab, daß das Weißbuch über den Binnenmarkt enorme Auswirkungen für Norwegen haben würde, da wir so stark vom Handel mit den EU-Ländern abhängen. Es wäre unverantwortlich gewesen, sich dieser Herausforderung nicht zu stellen. Vor diesem Hintergrund stellten wir die Frage nach unserer Rolle und unserem Platz in der europäischen Zusammenarbeit, als die Labour-Regierung 1986 an die Macht kam.

Das EWR-Abkommen erfüllte die meisten unserer Anforderungen, was den Markt anging. Aber die Geschichte schlug ihre Kapriolen und führte uns dadurch vor Augen, daß Märkte allein eine zu verengte politische Perspektive bieten.

Als Deutschland wiedervereinigt wurde, alte Diktaturen zerbrachen, eröffnete eine stille Revolution die Aussichten auf eine wahrhaft gesamteuropäische Zusammenarbeit, mit der Europäischen Gemeinschaft - jetzt der Europäischen Union - als der treibenden Kraft. Aber diese Veränderungen waren lediglich die Spitze des Eisbergs. Es wurde zunehmend klar, daß alle Nationalstaaten, die großen wie die kleinen, einen allmählichen Verfall der formell in die Hände ihrer nationalen Institutionen gelegten Macht erlebten.

-Wichtige Industrien gediehen, solange die Weltwirtschaft wuchs, mußten aber schwere Rückschläge hinnehmen - entweder durch Währungsinstabilitäten oder Abwertungen in anderen Ländern oder durch Dumping und ähnliche Handelsmaßnahmen.
-Die Illusion, daß ein Land eine eigene, nationale Zinspolitik betreiben kann, ließ sich innerhalb von Sekunden durch politische Entscheidungen in anderen Ländern zerstören.
-Wir konnten kostspielige Maßnahmen ergreifen, um "schmutzige" Industrien daran zu hindern, unsere Umwelt zu schädigen, und mußten doch zusehen, wie unsere Seen und die Gesundheit unserer Wälder zu Geiseln der europäischen Schornsteine wurden.
-Wir konnten die Fischbestände in unseren Gewässern aufbauen und mußten doch erleben, daß Tausende von Arbeitsplätzen in anderen Ländern geschaffen wurden, weil Zollschranken unsere Investitionen in eine Fischverarbeitung für den europäischen Markt von vornherein zum Scheitern verurteilten.
-Darüber hinaus wurden Fragen mit direkten Auswirkungen auf unsere Sicherheit zunehmend in Foren behandelt, in denen uns das Recht der Teilnahme versagt war.

Gleichzeitig veränderte eine weitere stille Revolution das gesamte Grundmuster der internationalen Beziehungen: Die Informationstechnologie und die Globalisierung der Wirtschaft entmachteten zum Teil die nationalen politischen Institutionen.

Die nordische Szene veränderte sich, als Finnland und Schweden sich entschlossen, die EG-Mitgliedschaft zu beantragen. Unsere neutralen Nachbarn hatten einen entscheidenden Durchbruch geschafft. Im November 1992 wurde dann entschieden, zunächst von der norwegischen Labour-Partei und dann vom norwegischen Parlament, daß auch Norwegen Antrag auf Mitgliedschaft stellen solle.

Während der Verhandlungen mußten wir um Verständnis werben für die ganz besonderen Bedürfnisse, die sich aus den in hohen nördlichen Breiten vorherrschenden Bedingungen ergeben. Wir haben zum Beispiel eine mehr als 21.000 km lange Küstenlinie, entsprechend einer halben Erdumkreisung. Entlang dieser Küste hängen 300 weit verstreute Siedlungen total von der Fischerei ab. Unsere Bevölkerungsdichte beläuft sich im hohen Norden auf zwei Personen pro Quadratkilometer und im nationalen Durchschnitt auf 14 Personen pro Quadratkilometer im Vergleich zu mehr als 250 Personen pro Quadratkilometer hier in Deutschland. Wir bebauen unser Land unter völlig anderen Bedingungen als denen in Niedersachsen oder der Ile de France.

Unser Ehrgeiz war keineswegs, Ausnahmen zu den EG-Regeln für uns zu erreichen, sondern die EG-Regeln so auszuweiten, daß sie auch norwegische Bedingungen einschließen. Norwegen ist keine Ausnahme zur europäischen Regel, sondern vielmehr ein Teil der Vielfalt, die Europa ausmacht. Viele unserer europäischen Partner taten sich schwer damit, zu verstehen, daß Themen wie Fischerei, Klima, Vegetationszeit und so weiter einen bestimmenden Einfluß auf die übergeordneten Themen der Konfiguration der Europäischen Union haben könnten. Aber wir haben sie am Ende überzeugt. Wir haben endlich ein Ergebnis erzielt, das wir dem norwegischen Volk in einem Referendum empfehlen können.

Warum aber wollten wir überhaupt den norwegischen Beitritt? Die Vorstellung der Demokratie, daß die Menschen durch ihre Beteiligung an demokratischen Prozessen in jedem Land über ihre eigene Zukunft Entscheidungen fällen und eine Auswahl treffen können, ist heute eh nur noch eine Halbwahrheit.

Es ist meine feste Überzeugung, daß die Mitgliedschaft uns mehr echten Spielraum für Demokratie und größere Kontrolle über jene Kräfte geben wird, die von nationalen Versammlungen und Regierungen allein nicht mehr gesteuert werden können.

Die heutige Herausforderung ist, die Kräfte der Demokratie zu vertiefen und zu erweitern und den demokratischen Entscheidungsprozeß auch auf die internationale Ebene zu heben, damit wir die von uns selbst gesetzten Ziele erreichen und die Sehnsüchte, die wir für unsere Gesellschaft hegen, verwirklichen können.

Es gibt nur wenige norwegische Wörter im gemeinsamen europäischen Vokabular. Eins davon ist "Ombudsman". Ich meine, das nächste dieser von Europa zu übernehmenden Wörter solle "trygghet" sein. "Trygghet" - oder "Zuversichtlichkeit" - enthält die Vorstellung von "Sicherheit" und "Zutrauen" in die Zukunft und stellt eine Garantie gegen Willkür und Diskriminierung dar.

Europa kann und muß die Arbeitslosigkeit abbauen und mehr Sicherheit und Chancen für die Zukunft unserer Menschen schaffen, unabhängig von ihrer Familiensituation oder Herkunft.

Wir können einfach keine Situation hinnehmen,
-in der unsere Jugendlichen Gefahr laufen, keine Ausbildung zu bekommen oder nicht zu wissen, wofür sie eine Ausbildung machen;
-in der die Senioren in vielen Ländern Angst um ihre Pensionen haben müssen wegen des Druckes, der auf ihren Sozialversicherungssystemen lastet;
-in der Umweltverbesserungen abhängig gemacht werden von der wettbewerbsbetonten ,,Über-die-Schulter"-Aufpaß-Mentalität von Ländern, die ihren eigenen Wettbewerbsvorteil wahren wollen, weil es kein gemeinsames Handeln gibt;
-in der 20 Millionen Westeuropäer arbeitslos sind, während wir 800 Milliarden ECU für Arbeitslosenunterstützung ausgeben und während es überall in Europa Arbeit gibt, die danach schreit, getan zu werden.

Mitgliedschaft in der Union ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, "trygghet" für uns selbst, unsere Arbeitsplätze, unsere Umwelt und unsere nachfolgenden Generationen etwas realistischer werden zu lassen.

Die europäische "trygghet" wird nie vollständig sein, wenn die Union ein Torso bleibt - abgeschnitten durch die Nordsee und die Ostsee. Viele EU-Kritiker in Norwegen behaupten, unser Land sei zu klein, um irgendein Gewicht in der Union zu besitzen. Ich glaube im Gegenteil, daß in einer Union souveräner Staaten die kleinen Nationen genauso zählen wie die großen und daß sie ihren Einfluß durch die Qualität ihrer Beiträge zur gemeinsamen Sache geltend machen.

Als Mitglied der Union wird Norwegen nicht nur reden, sondern wir werden auch zuhören. Wir sind der Überzeugung, daß die Union sich durch Wandel entwickeln muß, daß sie auf die Zukunftshoffnungen und -erwartungen der Menschen reagieren muß. Ohne eine derartige Sensibilität gegenüber kulturellen und regionalen Eigenheiten würde die Union steril und technokratisch. Die Union ist keine Vereinigung von Händlern und Maklern - sondern von Menschen, die darum kämpfen, ihr Leben zu bestreiten, ihre Hypothek zu bezahlen, ihre Kinder zu versorgen. Die sich engagieren für ihren Arbeitsplatz, ihre Ausbildung, ihre Renten. Die sich Sorgen machen um Kriminalität und Gewalt, um die Bedrohung unserer Umwelt und um die schrillen Stimmen der Intoleranz und des Hasses.

Wir müssen uns mit größter Sorgfalt nicht nur der demokratischen, sondern auch der sozialen Legitimation widmen. Es ist unhaltbar, wenn die Menschen meinen, daß die Angelegenheiten der Union hinter verschlossenen Türen - ohne ausreichende Sensibilität für die Bedürfnisse der Menschen selbst - geregelt werden.

Die Union stellt sich jetzt entschlossener denn je dem Erzfeind Nummer Eins - der Arbeitslosigkeit. Im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ist Preisstabilität eine wirksame Waffe. Aber Preisstabilität darf nicht als Ziel an sich dargestellt werden. Meinen Sie, man bekäme einen arbeitslosen Jugendlichen dazu, wegen der Preisstabilität für die Union zu stimmen? Oder würde ein 55jähriger, der Angst um seinen Arbeitsplatz hat, für die Union stimmen, weil wir mehr Wettbewerb brauchen? Nein. Preisstabilität und Wettbewerb sind lediglich die Instrumente, mit denen wir Arbeitsplätze und Chancen schaffen müssen.

Ich finde, es ist an der Zeit, die Vormachtstellung der Einzelstaaten innerhalb der Union zu betonen. Denn nur aus dem demokratischen Prozeß in jedem Mitgliedsstaat bezieht ja die Union ihre Kompetenz.

In seinem Urteil vom 12. Oktober letzten Jahres hat das Bundesverfassungsgericht auch noch einmal klargestellt, daß die Menschen in den Mitgliedsstaaten die Herren und nicht die Untergebenen der Union sind.

Der Gerichtshof unterstrich dabei, daß souveräne Staaten sich darauf geeinigt hatten, einen Teil ihrer Souveränität gemeinsam auszuüben. Jede weitergehende Kompetenzverlagerung muß von den nationalen Parlamenten genehmigt werden, spezifisch und klar umrissen sein und dem Prinzip der Subsidiarität entsprechen.

Es ist eine Fehleinschätzung, daß es der Union an demokratischer Kontrolle mangelt, wo europäische Länder zusammenkommen, kommen Demokratien zusammen, und es ist schwer, sich vorzustellen, daß eine Regierung lange überlebt, wenn sie in der Union eine Politik verfolgt, die sich im eigenen Land nicht auf ein demokratisches Mandat stützt.

In unseren jeweiligen Ländern ist es eher der Mangel an öffentlicher Beteiligung als das Gegenteil, das die ernsteste Bedrohung der Demokratie darstellt. Es gibt keine andere Lösung: Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um eine größere Beteiligung der Bevölkerung sicherzustellen - ob an nationalen Fragen oder Fragen der Union.

Die vor uns liegende Herausforderung heißt, die europäische Demokratie zu stärken und die Effizienz der Union zu sichern. Als Mitglied der Union wird Norwegen sich bei der Regierungskonferenz 1996 vehement für diese Ziele einsetzen. Es ist unsere tiefste Überzeugung, daß die Union effizient sein muß, ob sie nun sechs, zwölf, sechzehn oder sogar zwanzig und mehr Mitglieder hat.

In einer sozial, politisch und kulturell vielfältigen Welt scheint regionale Zusammenarbeit die größten Chancen für die Zukunft zu versprechen.

Ich glaube, daß wir in eine Ära der intensiveren, regionalen Zusammenarbeit eintreten - nicht nur in Europa, sondern weltweit. Kooperation und Integration haben in den verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich weite Fortschritte gemacht. Der Nahe Osten, Südostasien. Lateinamerika - sie alle brauchen regionale Zusammenarbeit.

Wenn selbst Europa es nicht schaffen sollte, sich politisch zu organisieren und die sich daraus ergebenden Vorteile für alle zu mehren, dann ist es schwierig sich vorzustellen, wo und wie internationale Kooperation überhaupt erfolgreich sein kann.

Die Union muß Europas zeitgemäßer Beitrag zur Kultur der Gestaltung zwischenstaatlicher Beziehungen sein. Ihre Mitglieder werden die Reflexe des souveränen Nationalstaates mit den neuen Prinzipien gemeinsamer Souveränität und Solidarität zu verbinden wissen.

Europa braucht mehr Recht und Demokratie. Nur innerhalb dieses Rahmens werden die Starken gerecht und die Schwachen sicher sein.