Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Exzellenzen!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Es sind nun einige Monate vergangen, seit ich die Nachricht erhielt, daß das Direktorium des Karlspreises beschlossen hat, mir den diesjährigen Preis zu verleihen. All jene, die mich kennen, wissen, es ist keine Phrase, wenn ich betone, welche Ehre der Erhalt dieses Preises für mich bedeutet: als Bestätigung eines Wegs und als Herausforderung, auf diesem Weg weiter fortzuschreiten.
Ich nehme diesen Preis stellvertretend für Österreich entgegen, das im letzten Jahr mit einem großen Votum den Beitritt zur Europäischen Union beschlossen hat: für das gemeinsame Ringen um Frieden und Demokratie, um Sicherheit und um Ökologie. Der Erhalt dieses Preises stimmt mich daher froh und ernst zugleich. Meine Hoffnung ist,
-daß heute dieser Weg von jedem beliebigen Punkt Europas aus nach Aachen gleich weit ist;
-daß dieser Weg allen Menschen in Zukunft gleichermaßen offen steht, gleich welche Farbe und welches Geschlecht sie haben, gleich welche Sprache sie sprechen und aus welchen Verhältnissen sie kommen.
-Meine Hoffnung ist, daß dies nicht mehr eine beliebige Illusion ist, wie es so viele in der Geschichte gegeben hat, sondern eine konkrete Utopie ist, die Wirklichkeit werden kann und Wirklichkeit werden soll.
Dies ist für mich, meine sehr geehrten Damen und Herren, und für das Österreich, für das ich einstehe, die Utopie Europa. Diese Utopie ist alt, und ihr Weg durch die Geschichte war weit: Der Weg führte durch viele Irrwege und Unterbrechungen hart an Abgründen vorbei und allzuoft auch in diese Abgründe hinein.
Die konkrete Utopie Europas ist zuallererst keine wirtschaftliche, sondern eine kulturelle. Es ist die Moderne, die in Europa geboren wurde, das Abenteuer der Demokratie und die Realisierung der Selbstbestimmung des einzelnen.
Wir sehen heute zwei Modelle der Geschichte Europas zeitgleich und geographisch dicht nebeneinander. Das eine ereignet sich hier und jetzt als ein friedlicher Einigungsprozeß. Er schreitet voran in unzähligen Schritten, mit großen Schwierigkeiten, hohem Aufwand, mit vielen kleinen und großen Konflikten, aber er ereignet sich am Verhandlungstisch und nach demokratischen Spielregeln. Eine Ouvertüre in unserer Generation vielleicht zu einem Europa, das seine Utopie ernst nimmt und zu einem Teil der Welt wird ohne nationale Ressentiments und Intoleranz.
Ein zweites Modell ereignet sich kaum zwei Flugstunden von hier. Es ist das Gegenteil davon und führt vor Augen, wie verletzlich diese Moderne in Wahrheit ist: Vormoderne Gespenster des Nationalismus und bestialische Gewalttätigkeit sind dort nach wie vor wach.
Beide Modelle des Konflikts sind Europa: Der Traum der Aufklärung, der Rationalität und des freien Dialogs, aber auch der Alptraum der Gewalt, der Mißachtung jeglicher Menschenrechte und des Terrors.
Dieses Nebeneinander läßt manche resignieren und verführt andere, ihre Zuflucht in einer romantisch verklärten Vergangenheit oder in simplifizierenden Phrasen autoritärer Populisten zu suchen. Für mich zeigt sich jedoch die Notwendigkeit einer weiteren Modernisierung Europas in der Tradition der Aufklärung und eines Fortschritts, der diesen Namen auch tatsächlich verdient.
Ich gehe nun kurz auf beide Begriffe ein und erkläre, was ich darunter verstehe. Ich halte dies für notwendig, da Modernität und Fortschritt für mich Schlüsselbegriffe sind und ihre Definition unseren gemeinsamen Weg in die Zukunft bestimmt.
Modernität ist in meinem Verständnis eine bestimmte europäische Denkform. Sie hat sich in Europa unter speziellen historischen und geographischen Bedingungen entwickelt. Die vielleicht entscheidende Bedingung dafür ist, daß unser Kontinent immer offen und niemals geographisch isoliert war. Niemand kann sagen, wo die genauen Grenzen Europas sind, es bleibt daher unbestimmt, wo Europa beginnt und wo es endet.
Das europäische Denken der Moderne hat niemals nur eine, sondern viele Wurzeln gehabt, nicht eine, sondern eine Vielzahl von Quellen gespeist. Gerade diese Vielheit und Offenheit für das Neue begründet das spezifische Europa.
Dieses Europa ist bekanntlich nicht durch Isolation, sondern durch Durchmischung entstanden - von verschiedensten Kulturen und Traditionen, die aufeinander getroffen sind und die gelernt haben, miteinander auszukommen und Konflikte friedlich zu bewältigen.
Die Vergangenheit Europas war weder harmonisch noch konfliktfrei, auch die Zukunft wird es nicht sein. Jeder, der dies verspricht, geht an der Realität vorbei. Es kommt jedoch darauf an, wie man in der Zukunft diese Konflikte austrägt.
Kern der Konflikte der Zukunft ist der alte europäische Konflikt, und zwar die Begegnung des Eigenen mit dem Fremden. Wir haben es uns vielleicht in den letzten Jahren ein wenig zu leicht gemacht und die europäische Zukunft als ein harmonisches Verschmelzen der Kulturen zu einer neuen Identität definiert. Ich denke, daß dieses Bild nicht stimmt. Realistisch erscheint mir dagegen das Bild Europas als das eines Mosaiks aus sehr vielen und sehr unterschiedlichen Teilen. Jeder Teil ist zwar unverwechselbar und eigenständig, die Teilchen ergeben zusammen aber doch ein Ganzes.
Was dieses Ganze darstellen wird, hängt ab von der Perspektive seiner Betrachter. Für mich ist das moderne Europa von seinen Ursprüngen her ein Europa des transkulturellen Gesprächs, der Offenheit und der Neugier. Erst dadurch ist in der Renaissance eine Denkform entstanden, welche die Welt noch nicht erlebt und die diese alte Welt verändert hat. Dieses moderne Europa hat die Freiheit begründet, durch sie entwickelten sich Wissenschaft und Forschung, der Humanismus und die frei Kunst. Und nur durch sie ist dauerhaft Frieden möglich.
Vor 50 Jahren haben die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs auf ein gemeinsames Europa gesetzt. Ihr Ziel hieß: "Nie wieder Krieg", und ihr Weg führte in die Europäische Union. Das europäische Projekt ist ein Friedensprojekt und die Europäische Union ein Garant für den Frieden unter ihren Mitgliedern geworden. Für Österreich ist die Europäische Union daher zuallererst eine Friedensunion, in der es undenkbar geworden ist, daß einzelne Mitgliedsstaaten gegeneinander Krieg führen, und in der es sich lohnt, an der Erhaltung des Friedens mitzuarbeiten.
Dieser Punkt hat für Österreich eine besondere Bedeutung. Österreich hat angeboten, an diesem Friedensprojekt eines modernen Europa mitzuwirken. Und wir sind stolz darauf. Österreich präsentiert sich ein Jahr nach dem Beitritt als Staat, der einiges zur Wirtschafts- und Sozialpolitik beitragen kann. Österreich gehört heute nicht nur zu den höchstentwickelten und wohlhabendsten Industriestaaten der Welt, sondern ist auch ein Land mit einer hohen sozialen Verantwortlichkeit des einzelnen für den anderen. Mit einer seit Jahrzehnten betriebenen konsequenten Hartwährungspolitik, mit einer Arbeitslosenquote von unter 5% und einer geringen Inflationsrate ist Österreich ein Land von außergewöhnlicher Stabilität.
Diese sozialpolitischen Faktoren sind für Österreich entscheidende Voraussetzungen für eine funktionierende Friedensunion nach innen und außen. Wir erden den Erhalt und die Weiterentwicklung der sozialen Tradition in der Europäischen Gemeinschaft daher mit Nachdruck vertreten - nicht zuletzt als Lehre aus der österreichischen Geschichte. Dies ist auch ein spezifischer Beitrag zum kommenden europäischen Reformprojekt, der Regierungskonferenz 1996.
Als Reststaat der Donaumonarchie war der im Jahr 1918 geborenen Ersten Republik nicht einmal von ihren eigenen Bewohnern Überlebensfähigkeit zugestanden worden; zwischen den Gesellschaftsschichten, die sich in Lager spalteten, herrschte eine unüberbrückbare soziale Kluft, an der die Republik schließlich zugrunde gegangen ist. Faschismus und Kriegsteilnahme an der Seite Hitlerdeutschlands waren die letzte Konsequenz einer mangelnden sozial- und wirtschaftspolitischen Basis des Landes. Viele Österreicher haben während des Faschismus schwere Schuld auf sich geladen, hunderttausende haben ihr Leben verloren.
Der Weg der Zweiten Republik war ein fundamental anderer. Es wurden sowohl innen- als auch außenpolitische Konsequenzen gezogen. Ganz im Gegensatz zur Situation in der Zwischenkriegszeit glaubten die Österreicherinnen und Österreicher nach 1945 an die Lebensfähigkeit Österreichs und an seine demokratischen Werte. Im Gegensatz zur Zerstrittenheit der Lager in der Ersten Republik wurde ein System des Interessensausgleichs zwischen den gesellschaftlichen Gruppierungen in Form einer Sozialpartnerschaft entwickelt, die eine der wichtigsten Voraussetzungen für hohen Lebensstandard und Stabilität wurde und auch über unsere Grenzen hinweg Anerkennung fand.
Außenpolitisch war die österreichische Neutralität alles andere als isolationistisch. Im Gegenteil! Bruno Kreisky hat immer darauf Wert gelegt, Österreichs Neutralität zu einer aktiven Friedenspolitik zu nützen. Ich meine, man kann ohne Übertreibung sagen, daß Österreich in so manchen, international heiklen Fragen eine wichtige Vermittlerrolle eingenommen und seine Neutralität stets als solidarischen Beitrag zur Friedenspolitik verstanden hat. Daran haben auch die tiefgreifenden Veränderungen nach Ende des kalten Kriegs und die Auflösung des östlichen Verteidigungsbündnisses nicht geändert. Und diese Erfahrungen wird Österreich auch aktiv in die gemeinsame Außenpolitik der Europäischen Union einbringen. Klarzustellen ist, daß die Erhaltung des Friedens in der Union in hohem Maße von der sozialen Stabilität innerhalb, aber auch außerhalb Europas abhängt.
Frieden ist für mich die Voraussetzung für die Verwirklichung der Utopie eines modernen Europa. Doch Frieden ist ein leerer Begriff, wenn wir ihn nur als Abwesenheit von Krieg definieren. Ein modernes Europa, für das mein Land eintritt, darf Friedenspolitik nicht allein auf ihre militärische Komponente reduzieren, sondern muß Frieden vernetzt betrachten in Verbindung mit einer aktiven Politik für eine gerechte Gesellschaft. Moderne Friedenspolitik muß nach den Ursachen für das Entstehen von bewaffneten Konflikten fragen, und das heißt für mich Entwicklungspolitik als Friedenspolitik, Sozialpolitik als Friedenspolitik und Wirtschaftspolitik als Friedenspolitik zu betrachten.
Eine weitere Konsequenz der Modernität ist die Offenheit, der konkreteste Auftrag in diesem Zusammenhang die rasche Hereinnahme jener osteuropäischen Länder in die Europäische Union, die sich ebenfalls diesen Zielsetzungen verschrieben haben. Wir sollten uns darauf besinnen, welchen Entwicklungsschub andere Länder durch die ökonomische und politische Einbindung in das Herz Europas genommen haben.
Ich komme zum zweiten Begriff aus der Geschichte Europas, dem Fortschritt. Ich bekenne mich gerne dazu, meine Damen und Herren, an den Fortschritt zu glauben. Fortschritt ist für mich aber keine Qualität an sich, das wäre blindes Taumeln von der Gegenwart in die Zukunft. Unter fortschrittlich verstehe ich, daß man weiß, wo man ist, einen Weg erkennt und diesen Weg in Erkenntnis eines bestimmten Ziels beschreitet. Dies erfordert eine konkrete, pragmatische Politik gerade im Dienst der europäischen Utopie. Fortschrittliche Politik ist daher flexibel, sicherlich nicht prinzipienlos.
Das Ziel heißt für mich neben aktiver Friedenspolitik das Herstellen, der Ausbau und die Weiterentwicklung von Demokratie. Die nationalen Territorialstaaten Europas waren und sind der Garant der Verfassung. Die durch den europäischen Zusammenschluß entstandene quantitativ größere Demokratie ist durch die Verflechtung nationaler und internationaler Interessen auch die letztlich stabilere Demokratie. Die entscheidende Frage, in der wir dringend Fortschritt erzielen müssen, heißt für mich: Wie ist es möglich, die Idee eines demokratischen Europa für den einzelnen zu vermitteln, der an komplexen Vertragswerken nicht interessiert ist und der zu Recht die Frage nach dem Nutzen stellt? Ich denke, hier gilt es sehr konkret, einige Versäumnisse bei der Entstehung des Maastricht-Vertrags aufzuholen und konkret Inhalte und Ziele der Unionspolitik aufzuzeigen.
Es ist vielleicht nicht klar genug, daß die Transparenz und die Überschaubarkeit der EU-internen Entscheidungsprozesse eine Bringschuld der Institutionen ist. Sie muß aktiv durch Information eingelöst werden, soll die Idee Europas vermittelt werden.
Wie ich bereits betont habe, ist Österreich bekannt für seine hohen sozialen Standards, die wir in der Union aufrechterhalten und weiterentwickeln wollen. Die Sozialpolitik in der Union bleibt heute weitgehend den Mitgliedsstaaten überlassen. Ich halte es jedoch für besonders wichtig, eine gemeinsame Politik zu entwickeln, die vor allem den sozial Schwächeren und Arbeitslosen ihr Hauptaugenmerk schenkt. Wir müssen wissen, wohin der Weg führt, wenn Europa Modernisierungsverlierer und Fortschrittsopfer produziert.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist daher mehr denn je die zentrale Herausforderung einer konzeptiven Politik in Europa. Vereinfacht ausgedrückt stehen wir vor folgendem Dilemma, das durchbrochen werden muß: Arbeitslosigkeit, rationalisierendes Wirtschaftswachstum und ökologische Grenzen des Wachstums. Die Frage lautet für mich: Wie schaffen wir es, vom "job-less growth" zu einem ökologisch verträglichen Wachstum mit innovativen Impulsen in der Beschäftigungspolitik zu kommen? Die einzige nachhaltige, d. h. zukunftsfähige Strategie liegt meines Erachtens in der Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten durch europaweite Kooperation.
Aktuell erscheint mir bei dieser entscheidenden Frage die rasche Bildung von europaweiten Schwerpunkten in der Arbeitsmarktpolitik: Der Ausbau von Infrastruktur, Entwicklung und Erprobung neuer, sozial verträglicher Arbeitszeitmodelle ebenso wie die entschlossene Bekämpfung von Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit und die Schaffung von Arbeitsplätzen vor allem im Umweltbereich.
Modernisierung und Fortschritt wurden, meine sehr geehrten Damen und Herren, einige Zeit lang fast als Kampfbegriff gegen eine umweltbewußte Politik verstanden. Hier hat die Umweltbewegung weltweit eine wichtige Funktion der Bewußtseinsbildung und der Revision eines reduzierten Fortschrittsgedankens gehabt. Die Umweltbewegung ist heute rationale und entschlossene Umweltpolitik; und mehr denn je brauchen wir intelligente Umwelttechniken, mehr denn je bedarf es eines menschengerechten Fortschritts, der die Schäden einer wenig umweltbewußten Moderne zumindest halbwegs wieder ins Lot bringt. Aus ökologischer Sicht hat Österreich ein besonderes Interesse an der Mitgestaltung der europäischen Politik und wird, wo immer es geht, danach trachten, das im EU-Vergleich besonders hohe Schutzniveau im Umweltbereich auf die Gemeinschaft zu übertragen.
Wir befinden uns heute, meine Damen und Herren, in einer Übergangsperiode, in der sich die vertrauten Landkarten rasch verändern. Nicht nur die Landkarten der Geographen, sondern vor allem die Topographien der Ideologien und der Weltbilder. Das Gefühl, Teil eines Übergangs mit noch unbekanntem Ziel zu sein, beherrscht zentrale gesellschaftliche Lebensbereiche und - vielleicht mehr, als wir es vermuten - das Lebensgefühl jedes einzelnen. Dieser Tatsache müssen wir uns mehr denn je bewußt sein, wenn wir nächstes Jahr darangehen, die Europäische Union zu reformieren. Wir müssen Antwort auf die Fragen derer geben, die zu vertreten uns aufgetragen ist.
Wir müssen in bester europäischer Tradition auch vermitteln, daß der einzelne nicht nur Objekt und Zeuge der ständigen Veränderungen um ihn herum ist, sondern daß er als einzelner ihr Subjekt und zugleich ihr Verursacher ist. Das gilt für alle Felder einer gemeinsamen Politik in Europa, die ich genannt habe, aber auch für alle Lebensbereiche: Es gibt kein Außen mehr, von dem ich nicht betroffen bin, es gibt nur noch ein Innen, als dessen Teil ich mich begreifen muß.
Auf den Punkt gebracht heißt dies, wie es der französische Philosoph Gaston Berger formuliert hat: "Wir dürfen nicht mehr auf das Morgen warten, wir müssen es erfinden!"