Meine Damen und Herren,
Europa braucht Symbole – und praktische Maßnahmen. Der internationale Karlspreis ist ein wichtiges Symbol und sein diesjähriger Empfänger, Bundeskanzler Franz Vranitzky, ist ein Vertreter der praktischen politischen Tätigkeit, die zu bestehenden Ergebnissen führt, zum Wohle eines Staates wie auch eines ganzen Erdteils.
Die Gelegenheit, auf dem historischen Aachener Boden, auf der Stelle, wo sich die Aula regia Karls des Großen befand, eine Laudatio für Franz Vranitzky zu halten, ist mir eine große Freude.
Ich sehe eine bestimmte Symbolik darin, daß der Empfänger des Karlspreises 1995 Chef einer Regierung ist, die ihr Land soeben in die Europäische Union geführt hat, und daß die Laudatio von dem Regierungschef eines anderen neuen Mitgliedsstaates gehalten wird.
Ich zitiere Werner Müllers Worte im Atlas zur Baukunst: "Das Münster in Aachen ist ein Schlüsselbauwerk der Architekturgeschichte. Dieses Werk strahlt Impulse in seine Zeit und die Zukunft aus. Das Münster in Aachen verkörpert Geschichte: in einem historischen Kern, der in epochalen Abständen durch jeweils moderne Architektur ergänzt wird: Geschichte als Wandel."
Die europäische Geschichte ist ein Prozeß von Veränderungen, aber wie die Pfalzkapelle im Aachener Münster bildet die europäische Idee ihren Kern. Seit dem Reich Karls des Großen ist Europa gebaut worden, Schicht nach Schicht, nicht die Vollständigkeit anstrebend und einem Modell angepaßt, sondern als großes Vorhaben, das die Pluralität anerkennt.
Nach Worten des englischen Historikers Hugh Seton-Watson ist Europa ein christliches Europa, zu dem sowohl die Protestanten und Katholiken als auch die Orthodoxen gehören. Heute, sogar nach vielen schrecklichen Erfahrungen, ist die Toleranz ein Kern der europäischen Idee. Das Europa von heute ist auch die Heimat von Muslimen, Juden und vielen anderen Religionsgemeinschaften. Die europäische Idee bedeutet heute eine Union, die für solche europäischen Länder offen ist, die die Demokratie, die Marktwirtschaft und die Menschenrechte stabilisiert haben.
50 Jahre sind vergangen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dieser Tatsache zu gedenken war eine schmerzhafte, aber notwendige Erfahrung.
In der Geschichte jedes Staates gibt es Licht und Schatten. Besonders an der Schwelle einer neuen Epoche ist es leicht, die Schatten zu vergessen. Franz Vranitzky wählte nicht diesen leichten Weg, als er im Nationalrat in 1991 äußerte: "Wir bekennen uns zu allen Taten unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen." Eine solche Ehrlichkeit schafft Berechtigung dafür zu wirken, daß die negativen Erscheinungen der Vergangenheit im heutigen Europa nicht mehr Fuß fassen.
Die Europäische Union ist eine Art Garantie dafür, daß die Schrecken der Geschichte, die aus der Intoleranz entstanden, sich nicht mehr wiederholen. Ich zitiere den Paul-Henri-Spaak-Vortrag, den Franz Vranitzky vor einem Jahr hielt: "But we should also not forget that cooperation and integration is our best insurance policy against racism, xenophobia and antisemitism in our own societies."
Finnland und Österreich haben in diesem Jahre 1995 Geschichte gemacht, indem sie der Europäischen Union beigetreten sind. Beide bringen etwas Neues in die europäische Struktur. Beide haben die Stabilität in Europa durch ihre Neutralitätspolitik gestärkt und führen jetzt in die Union eine starke friedenspolitische Tradition mit. Auf dem Gebiet der Kultur stützen sie sich auf die nationale Tradition. Kulturell ist Österreich auch heute eine Großmacht.
Es kann besonders betont werden, daß sowohl Finnland als auch Österreich die soziale Marktwirtschaft und eine Gesellschaft, in der vieles durch Verträge geregelt wird, entwickelt haben und daß sie so die Integration in der Gesellschaft bewahrt haben.
Die Europäische Union als Garantie für die Sicherheit - im weitesten Sinne dieses Wortes -, war gewiß einer der wichtigsten Gründe, warum die Regierungen Österreichs und der drei Nordischen Länder den Beschluß faßten, eine Mitgliedschaft in der EU zu beantragen.
In Österreich konnte die Regierung Franz Vranitzky dem Volk diese Botschaft übermitteln; das Ergebnis war eine Zweidrittel-Mehrheit für die Mitgliedschaft. Auch in Finnland war die Mehrheit überzeugend und gleichfalls in Schweden klar genug. In Norwegen ging es leider nicht so. Wir hoffen, daß Norwegen die Mitgliedschaftsfrage später noch in Erwägung zieht.
Im Lichte mehrerer Volksabstimmungen, die in Europa gehalten wurden, ist es jedoch begründet, die Frage zu stellen, warum sich die Staatsbürger zur Europäischen Union und ihrer Entwicklung oft so viel kritischer und mißtrauischer als die Regierungen und wirtschaftlichen Interessengemeinschaften verhalten. Sehen wir die Erwartungen und die Befürchtungen der Staatsbürger klar genug?
Ein Schlüsselwort ist die Sicherheit. Ich will mich stark der Auffassung Franz Vranitzkys anschließen, nach der der Begriff "Sicherheit" viel breiter ist als der Begriff "militärische Verteidigung". Nachdem die Ost-West-Konfrontation verschwunden ist, sind neue Faktoren der Unsicherheit aufgetaucht, die in den Augen der Staatsbürger oft viel konkreter als die Gefahr eines Großmachtskrieges sind: das organisierte Verbrechen, die Umweltkatastrophen und die unbeherrschbaren Bevölkerungsbewegungen.
Es ist offenbar, daß viele der oben erwähnten Probleme wirksamer durch die EU oder in ihrem Kreise als auf einer nationalen Grundlage gelöst werden können. Der Anstieg der international organisierten Kriminalität kann nur durch internationale Mittel bekämpft werden. Was die Überwachung der Staatsgrenzen angeht, haben die fünf Nordischen Länder Erfahrungen von dreißig Jahren in gegenseitiger Paßfreiheit und gemeinsamem Arbeitsmarkt, während jeder einzelne Staat gleichzeitig für die Sicherheit seiner Staatsgrenzen wirksam gesorgt hat. In dieser Hinsicht kann die nordische Integration als Modell der Europäischen Union dienen.
Auf diesen und anderen ähnlichen Gebieten kann man den Staatsbürgern den Nutzen der Mitgliedschaft konkret zeigen.
Die Arbeitslosigkeit und der daraus folgende soziale Verfall erregt auch bei uns tiefe Besorgnis.
In Finnland stieg die Arbeitslosigkeit in einer kurzen Zeit infolge der Konjunkturen und der Überhitzung der Wirtschaft zu Rekordzahlen. Die neue finnische Regierung, die eine breite politische Grundlage hat, verwirklicht jetzt ein umfangreiches Wirtschaftsprogramm, das darauf gerichtet ist, die Arbeitslosigkeit zu bezwingen. Während der ersten Etappe setzt dieses voraus, daß der Staatshaushalt beherrscht und die Inflation auf einer niedrigen Ebene stabilisiert wird.
Die von Bundeskanzler Vranitzky geleiteten großen Koalitionen konnten sowohl die Hochkonjunkturen als auch die Flauten in Österreich ohne größere Schwankungen beherrschen. Eine Regierung verdient ein gutes Zeugnis, wenn Sparmaßnahmen im öffentlichen Haushalt schon im voraus präventiv ergriffen werden, um einen hohen Beschäftigungsgrad zu bewahren, und nicht erst als Folge einer tiefen wirtschaftlichen Rezession.
Ein Maßstab der Reform der Volkswirtschaft sind die Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrags. Sowohl Finnland als auch Österreich sind in einer guten Lage, wenn man an die Erfüllung dieser Kriterien in der Zukunft denkt.
Die Frage lautet nun, ob auf die Probleme der Arbeitslosigkeit in Europa durch andere als nationale Mittel eingewirkt werden kann. Ich glaube, daß die Verwirklichung der EWU auf lange Sicht positiv auch auf die Voraussetzungen der Beschäftigung einwirkt. Wir haben jetzt das Weißbuch von Jacques Delors und die Empfehlungen des Essener Gipfeltreffens. Gibt es Initiative und politischen Willen, die Zusammenarbeit zur Verbesserung der Beschäftigung zu konkretisieren? Ich hoffe darauf, und daß wir auf dem Treffen des Europäischen Rats in Cannes in dieser Hinsicht vorwärtskommen.
Finnland, das auch ein neuer Grenzstaat in der Europäischen Union ist, sieht in der Unterstützung der osteuropäischen Reformländer, einschließlich der baltischen Länder, eine Priorität der Europäischen Union. Ziel ist, die Länder des Europavertrages auf eine EU-Mitgliedschaft in absehbarer Zeit vorzubereiten und eine wirksame Zusammenarbeitsbeziehung zu allen EU-Nachbarn sowohl im Osten als auch im Süden zu schaffen. Es geht nicht um eine altruistische Wohltätigkeit, sondern um unsere eigene Sicherheit und um die Sicherung unseres wirtschaftlichen Wohlstands. Dazu sind konkrete Taten notwendig, die Österreich seinerseits schon im Rahmen der sog. Vranitzky-Initiative in Angriff genommen hat.
Die drei neuen Mitgliedsstaaten haben sich im Europa der Nachkriegszeit, jeder in seiner eigenen Weise, als neutrale Staaten ausgeprägt. In der neuen sicherheitspolitischen Konstellation Europas hat jeder den Inhalt seiner Linie überprüfen müssen.
Bundeskanzler Vranitzky hat folgerichtig die Kontinuität der Politik seines Landes betont, die Notwendigkeit, an der bewährten Linie festzuhalten und gleichzeitig an Anstrengungen zur Beschaffung eines umfassenden und wirksamen europäischen Sicherheitssystems teilzunehmen.
Ich verstehe diese Ansicht. Die neuen Mitglieder der EU sind meines Erachtens, was die Sicherheitspolitik angeht, in keiner Jahr-Null-Lage. Die Beseitigung der militärischen Konfrontation hat uns in kein Sicherheitsvakuum gestellt. Jeder neue Mitgliedstaat hat nach dem Weltkrieg einen wirksamen Modus vivendi aufgebaut, wozu gehören, wenn man von Finnland spricht, eine stabile Lage in Nordeuropa und wirksame Beziehungen zur Sowjetunion, jetzt zu Rußland. Diese Werte haben eine Bedeutung auch im neuen Europa.
Es ist dagegen klar, daß der Hintergrund jedes einzelnen Mitgliedsstaates die Akzentuierungen, die Vorstellungen darüber beeinflußt, in welcher Richtung und mit welchem Zeitplan die sicherheits- und verteidigungspolitischen Ziele von Maastricht erreicht werden sollten.
Ich bin der Ansicht, daß die Außen- und Sicherheitspolitik sich als zwischenstaatliche Tätigkeit bewahren werden, aber ich sehe die Notwendigkeit, gemeinsame Mechanismen und Methoden wirksamer zu machen. Ich finde, daß es notwendig ist, die Fähigkeit der Union zur Krisenbewältigung zu entwickeln, wobei die Rolle der EWU mit Hinsicht auf diese Aufgabe geklärt werden müßte. Ich verstehe die Besorgnisse, die zur Diskussion über die Erweiterung der NATO geführt haben, und bringe dabei den Wunsch zum Ausdruck, daß alle zu treffenden Entscheidungen die Sicherheit in ganz Europa festigen und keine neuen Besorgnisse um die Sicherheit erregen.
Meine Damen und Herren!
Franz Vranitzky ist einer der langjährigsten Ministerpräsidenten in Europa. Es gibt kaum außen- oder innenpolitische Probleme, die ihm fremd sind. Eine neue Dimension bringt die EU-Politik, die die traditionellen Grenzen der Innen- und Außenpolitik überschreitet. Die Regierungskonferenz 1996, auf der die meisten von mir erwähnten Fragen direkt oder indirekt zur Sprache gebracht werden, steht uns bevor. Dann sollen die Regierungen nicht nur Entscheidungen in Sachfragen fassen, sondern auch die demokratische Legitimität der Beschlüsse sichern, das heißt Billigung von den Parlamenten und Staatsbürgern einzuholen.
Die EU-Mitgliedschaft betont die Wichtigkeit des Parlamentarismus. Die Regierungen sollen imstande sein zu zeigen, daß die Souveränität uns nicht entflohen ist, sondern daß sie gemeinsam unter Mitwirkung und Kontrolle der Parlamente gebraucht wird. Zugleich stellt die Mitgliedschaft neue Anforderungen sowohl an die Politiker und Beamten als auch an die Medien. Diese Anforderungen erhalten besonderen Nachdruck, wenn es um die politische Führung, in letzter Hand um Teilnehmer des Europäischen Rats geht.
Franz Vranitzky – eine Schlüsselfigur im heutigen Europa, ein Zentraleuropäer, der global denkt. Ein Mann, der aus der Arbeiterklasse stammt und dieses nicht vergessen hat. Ein Staatsmann und Spitzensportler; die Richtung des Balls, den er paßt, können wir nicht immer im voraus sehen, aber sie führt die Mannschaft zum Sieg.
Franz Vranitzky hat alle Voraussetzungen, eine bedeutende Rolle auch in der EU zu spielen. Ich sehe im Karlspreis sowohl einen Dank als auch eine Anregung und wünsche Ihnen, Herr Bundeskanzler, im Namen aller Teilnehmer besten Erfolg in dieser neuen Tätigkeit zum Wohle Österreichs und Europas.