Exzellenzen, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren!
Vor 20 Jahren ist zum ersten Mal der Internationale Karlspreis der Stadt Aachen verliehen worden.
Europa – so hieß damals die große Hoffnung der Menschen in unserem Teil der Welt.
Europa – das sollte die Überwindung des Nationalismus sein, der die Völker immer wieder in grausamer Selbstzerstörung gegeneinander geführt hatte.
Es ist fast auf den Tag 20 Jahre her, daß Robert Schuman seine berühmt Erklärung abgab, die zur Gründung der Montan-Union führte, der Keimzelle der europäischen Gemeinschaft.
Damals konnte sich der große Anreger der europäischen Einigung, Graf Coudenhove-Kalergi, kurz vor dem Ziel wähnen:
Aber er, der erste Träger des Karlspreises, und mit ihm die europäische Jugend, der auch damals schon alles zu langsam ging und die deshalb die Grenzpfähle niederriß – sie konnten nicht wissen, wieviel Geduld ihnen Europa noch abverlangen würde.
Der Bogen jener 20 Jahre vom Mai 1950 bis heute überspannt Höhen und Tiefen.
Mit den Namen der Karlspreisträger sind Entscheidungen von historischer Bedeutung verbunden. Sie haben heute schon geschichtlichen Rang. Aber auch diese großen Europäer haben es schmerzhaft erfahren müssen, wie weit auf dem Felde der Europapolitik wollen und Vollbringen auseinander liegen.
In diesen 20 Jahren war die Verleihung des Karlspreises niemals eine selbstzufriedene europäische Feierstunde. Hier nach Aachen werden nicht Politiker eingeladen, um ihnen einen zusätzlichen Ordensstern an die Brust zu heften. Hier wird aktiv europäische Politik betreiben. Hier, in diesem Saal, sind Gedanken formuliert worden und Absichten ausgesprochen worden, die uns immer wieder ein Stückchen weiter gebracht haben.
Wir haben gelernt einzusehen, daß nicht in wenigen Jahren zusammengeführt werden kann, was sich jahrhundertelang neben- und auseinander entwickelt hat. Wir können Europa nicht auf Ungleichheit und Ungerechtigkeit aufbauen. In dem Europa, das uns allen vorschwebt, gibt es keinen Platz mehr für nationale Vorrangstellung. Wir wollen, daß die europäische Einigung allen den gleichen Vorteil bringen soll. Während wir noch inmitten der wirtschaftlichen Integration stehen, während wir um die Fortführung der politischen Einigung und um die Erweiterung der Sechsergemeinschaft bemüht sind, ruft uns ein Problem zu gemeinsamem Handeln, das wir in der Vergangenheit im nationalen und im europäischen Rahmen zu wenig beachtet haben: Es ist der Kampf gegen die Verschmutzung unserer Umwelt. Boden, Wasser und Luft, diese kostbaren Güter, von denen unsere Existenz abhängt, brauchen endlich ausreichenden Schutz und Pflege. Die USA haben das Problem in seiner ganzen Bedeutung und in seiner Dringlichkeit erkannt. Die amerikanische Regierung hat ihren Verbündeten vorgeschlagen, im Rahmen der NATO auf diesem Gebiet eng zusammenzuwirken. Wir hatten dieses Angebot angenommen. Es hat Vorrang in unserer Zusammenarbeit. Sie wird dann nur erfolgreich sein, wenn wir uns in Europa auch im Kampf gegen die Umweltgefahren über den nationalen Rahmen erheben, wenn wir erkenne, daß es sich dabei um ein Problem europäischer Innenpolitik handelt. Es geht jetzt darum, einen friedlichen europäischen Feldzug gegen die Verschmutzung unserer Umwelt zu führen. Wir brauchen dazu die Initiative der Regierung, die Aufgeschlossenheit der Parlamente und die Mobilisierung der Menschen. Kein Land darf sich ausschließen: Es verhinderte sonst den Schutz seiner eigenen Bürger, es gefährdete die Bemühungen seiner Nachbarn und es verschaffte sich angesichts der großen finanziellen Lasten, die der Schutz der Umwelt verursachte, einen ungerechtfertigten, dem Geist unserer Zusammenarbeit widersprechenden Vorteil.
Mit dem Blick auf Osteuropa frage ich, welches Feld eignet sich eigentlich mehr zur Kooperation zwischen Staaten unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Ordnung, als das Bemühen den Menschen gesunde Lebens- und Umweltbedingungen zu schaffen?
Das Jahr 1970 hat Aussicht, ein wahrhaft europäisches Jahr zu werden. Die letzten Hindernisse für die Verhandlung mit den beitrittswilligen Ländern sind beiseite geräumt. Wir stehen am Beginn einer gewiß nicht minder beschwerlichen, hoffentlich aber auch nicht minder erfolgreichen Politik. Nach Osten hat die Bundesrepublik Deutschland die Hand ausgestreckt zur Verständigung und zum Ausgleich mit unseren Nachbarn auch dort. Für uns sind diese Verhandlungen nicht nationalstaatliche Ostpolitik im Verständnis der zwanziger Jahre, sondern europäische Friedenspolitik im Geist der siebziger Jahre. Diese unsere Bemühungen erfordern eine breite Vertrauensbasis in unserem eigenen Lande. Sie erfordern das Verständnis und die Unterstützung unserer westlichen Nachbarn. Sie erfordern aber auch bei unseren östlichen Verhandlungspartnern jenen Willen zur Verständigung und jene Bereitschaft zur Respektierung der Interessen und der Rechte des anderen, ohne die es keine dauerhafte Friedensordnung in Europa geben kann. Die deutsch-französische Versöhnung, die Lösung der Saarfrage, hat gezeigt, welcher Geist auf allen Seiten notwendig ist, wenn aus Siegern und Besiegten von gestern Partner von heute und für die Zukunft werden sollen.
Daß der lange Zeit für ewig und fast naturgesetzlich notwendig gehaltene Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich aufgelöst werden konnte, daß beide Völker heute in Freundschaft verbunden sind und daß sie sich zu einer Politik der Partnerschaft verpflichtet haben – das erst hat das Tor nach Europa wirklich aufgestoßen. Die Bundesregierung benutzt dankbar die Gelegenheit, heute einem Manne zu danken, der ihr in allen Phasen der deutsch-französischen Politik als ein treuer Freund zur Seite gestanden hat.
François Seydoux de Clausonne hat als Botschafter seines Landes in Deutschland viel erreicht. Er hat in den Jahren bei uns den deutsch-französischen Vertrag mit Leben erfüllt. Die deutsch-französische Freundschaft steht nicht auf dem Papier, wir haben sie in der Person de Karlspreisträgers von 1970 leibhaftig vor uns. François Seydoux de Clausonne hat seine diplomatische Karriere vor wenigen Tagen beendet. Immer war dieses Diplomatenleben eng mit Deutschland verknüpft. In Deutschland ist er geboren, in Deutschland machte er seine ersten diplomatischen Erfahrungen, in Deutschland vollendete er sein Lebenswerk. Er ist fast einer von uns geworden, und doch blieb er immer der denkbar beste Repräsentant jenes Frankreich, für das alle Völker eine offene oder mindestens geheime Liebe empfinden. François Seydoux de Clausonne verläßt uns in einem Moment, da die Bundesregierung in dem sicheren Bewußtsein, daß die Aussöhnung mit Frankreich vollendet ist, nunmehr daran geht, das Mißtrauen und die Furcht aus der Vergangenheit auch im Verhältnis zu unseren osteuropäischen Nachbarn zu vermindern und vielleicht auf Dauer zu beseitigen. Der Versuch einer Verständigung mit Polen, die Gespräche mit der Sowjetunion sind nur möglich, weil Frankreich der Welt bezeugt hat, daß man mit dem Nachbarn Bundesrepublik Deutschland gut auskommen kann. Zu den hervorragendsten Zeugen gehört dabei der Karlspreisträger 1970. Die Völker Europas müssen lernen, miteinander auszukommen und gemeinsam den Frieden zu bewahren.
François Seydoux de Clausonne hat uns auf dem Weg zum europäischen Frieden und europäischen Einheit eine weite Strecke begleitet. Mit der heutigen Auszeichnung reiht er sich ein in die Ehrenliste der großen Europäer unserer Zeit. Daß es hier in Aachen geschieht, an einer gemeinsamen Wurzel der europäischen Völker, gibt unserem Treffen einen weiteren tiefen Sinn. Im Namen der Bundesregierung danke ich dem Direktorium des Karlspreises für die Wahl, die es getroffen hat. Dem Mann, auf den die Wahl fiel, unserem Freund François Seydoux de Clausonne, spreche ich die herzlichen Glückwünsche der Bundesregierung aus.