Für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen danke ich Ihnen herzlich. Ich empfinde diese Auszeichnung als eine hohe Ehre – und dies um so mehr, als sie gleichzeitig an den französischen Staatspräsidenten François Miterrand verliehen wird.
In der Geschichte des Karlspreises nimmt diese Entscheidung der Jury einen besonderen Platz ein: Zum erstenmal sind ein Franzose und ein Deutscher gemeinsam Preisträger.
Auch darin spiegelt sich die beispiellose Entwicklung wieder, die das Verhältnis unserer beiden Völker durchlaufen hat. Die Verleihung des Karlspreises an Jean Monnet 1953 und dann an Konrad Adenauer 1954 stand noch ganz im Zeichen der deutsch-französischen Aussöhnung.
Dieses Werk ist längst vollendet, und jeder wird verstehen, daß ich mich heute vor allem an jenen Tag erinnere, an dem François Mitterrand und ich gemeinsam die Grabfelder von Verdun besuchten und uns vor dem Ossuaire von Douaumont die Hand reichten. Zwischen Deutschen und Franzosen ist Freundschaft und Partnerschaft gewachsen, sie haben zusammengefunden in gemeinsamer Arbeit für Europa.
Wir schlagen so – und auch das wird am heutigen Tage deutlich – über lange Jahrhunderte der Trennung hinweg eine Brücke in jene Zeit, in der Deutsche und Franzosen vereint waren – in der sie eins waren "im Mutterschoße der Zeiten", wie es Thomas Mann einmal ausgedrückt hat. Deutschland und Frankreich waren stets mehr als nur Nachbarn. Sie waren und sind Geschwister, hervorgegangen aus denselben Ursprüngen, aus demselben karolingischen Reich, das hier in Aachen auf so einzigartige Weise lebendig geblieben ist.
François Mitterrand hat bei seinem Besuch im Aachener Rathaus im Oktober 1987 sehr eindringlich von der Gegenwart der Geschichte gesprochen, die wir alle hier verspüren und die gleichermaßen die Geschichte Deutschlands wie Frankreichs ist.
Der Name Karls des Großen vergegenwärtigt freilich nicht nur eine große Vergangenheit: Er steht auch für vieles, was Franzosen und Deutsche heute mit Blick auf die Zukunft verbindet – für unser europäisches Erbe ebenso wie für unseren gemeinsamen europäischen Auftrag.
Unser europäisches Erbe – damit meine ich unsere in jahrhundertelanger Entwicklung geprägter Kultur. Ich spreche nicht nur von den großen Meisterwerken der Literatur, der Musik oder der Malerei, auch nicht nur von einzigartigen Baudenkmälern, obwohl auch sie allen europäischen Völkern – und nicht nur einem – gehören.
Es geht mir vor allem um den Geist, der diese Kunstwerke prägt und der ihnen ihre eigentliche Größe, ihre bleibende Schönheit über Zeiten und Grenzen hinweg verleiht. In diesem "Genius Europas" – wie ihn Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in Straßburg genannt hat – fließen die Philosophie der Antike und des Humanismus ebenso zusammen wie die vorwärtsdrängende Rationalität der Aufklärung und vor allem natürlich die prägende Kraft des Christentums.
Aus dem Bewußtsein für diese gemeinsamen Ursprünge entstand die europäische Idee. Sie läßt sich nicht verstehen und vollziehen ohne das für uns gültige Wertesystem. Es gründet auf der Einzigartigkeit des Menschen, auf der Achtung vor dem Leben, auf der Achtung von Menschenwürde und persönlichen Freiheitsrechten. Die einigende Kraft dieses kulturellen Erbes darf nicht verlorengehen – erst recht nicht im freien Teil unseres Kontinents.
Wir müssen daher das Bewußtsein für die kulturelle Dimension Europas wieder schärfen. Die Europäische Gemeinschaft ist mehr als ein Interessenverband, vielmehr auch als etwa nur eine Freihandelszone. Sie ist auch und vor allem eine Werte- und Kulturgemeinschaft.
Die gemeinsame Kultur ist mit das stärkste Band, das Europa zusammenhält und nun zusammenschließt. Es verbindet das Europa der Gemeinschaft mit den Völkern Mittel-, Ost- und Südosteuropas.
Gerade die Menschen dort betonen mit Nachdruck diese kulturelle Einheit Europas – und keine Diktatur in Vergangenheit und Gegenwart hat dieses Zusammengehörigkeitsgefühl jemals zerstören können. Polen und Ungarn, Tschechen und Slowaken sowie die anderen – und nicht zuletzt unsere deutschen Landsleute in der DDR – legen Wert darauf, daß sie nicht nur geographisch, sondern auch geistig-kulturell Europäer sind. Wir dürfen dies niemals vergessen.
Wenn wir heute auf dem Weg zur Europäischen Union mit neuem Tatendrang vorangehen, handeln wir auch im Interesse der Menschen im anderen Teil unseres Kontinents – und in der Hoffnung, daß sie eines Tages in freier Selbstbestimmung dieses Werk des Friedens mitgestalten können.
Auch deshalb ist es so wichtig, daß wir die kulturelle Dimension bei der Einigung Europas stärker hervorheben. Kultureller Austausch kann Frieden stiften. Er ist und bleibt unentbehrliche Grundlage für Freundschaft zwischen den Völkern wie für das Gelingen jeder Zusammenarbeit: Wir dürfen also bei den vielversprechenden Neuanfängen nicht stehenbleiben.
Wir müssen dabei vor allem an die junge Generation denken. Es geht um ihre Zukunft – gerade für sie wollen wir die Vision eines vereinten Europas verwirklichen. Denn ein solches Europa brauchen sie, um dauerhaft in Frieden und Freiheit zu leben.
Zugunsten eines besseren gegenseitigen Verständnisses müssen wir – wo und wie immer möglich – den Sprachunterricht fördern. Von Universität zu Universität muß über Grenzen hinweg mehr Austausch stattfinden.
Studenten sollten es wieder für selbstverständlich halten, Semester im Ausland zu verbringen, dort z. B. auch Praktika zu absolvieren. Aber auch Auszubildende und junge Arbeitnehmer können nur gewinnen, wenn sie Erfahrungen im Ausland sammeln – neue Kenntnisse und bereichernde Eindrücke.
Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland haben gerade auch auf diesem Gebiet Wege gewiesen – das mittlerweile 25 Jahre alte deutsch-französische Jugendwerk ist weltweit ohne Beispiel. In jüngster Zeit haben wir unsere kulturelle Zusammenarbeit noch intensiviert. Aber wir wissen, daß wir im kulturellen Austausch zwischen Deutschen und Franzosen noch mehr tun können – und mehr tun müssen. Auch in der jungen Generation gibt es immer noch zu viele Schwierigkeiten, den anderen zu verstehen – nicht nur in der Sprache.
Ich bin überzeugt davon, daß ein verstärkter Austausch, ein Mehr an Begegnungen, den jungen Menschen in beiden Ländern – auch ganz persönlich – großen Nutzen bringen wird. Anders als manche Medien bei uns suggerieren, wächst in der Bundesrepublik Deutschland nach Jahren der Zukunftsangst wieder neue Zuversicht in der jungen Generation. Dieser Trend kann durch den Kontakt mit jungen Franzosen und ihren Lebensmut nur gestärkt werden.
Es ist wahr, daß unsere beiden Völker sehr verschieden sind. Doch gerade diese Verschiedenartigkeit bietet eine gute Voraussetzung für eine Synthese, in der sich die besten Eigenschaften verbinden. Gerade darin liegt ja das Geheimnis der ungebrochenen Kraft Europas: in dem fruchtbaren Spannungsverhältnis zwischen Einheit und lebendiger Vielfalt unseres kulturellen Erbes.
Deshalb kann auch niemand ernsthaft daran denken, die Unterschiede zwischen den Völkern einzuebnen, ihre Eigenheiten und verschiedenen Charaktere gleichsam wegwischen zu wollen. Wir müssen uns vielmehr den Reichtum an Kulturgütern und geistigen Entwicklungen nutzbar machen:
Er ist eine wesentliche Grundlage menschlicher Schaffenskraft – und damit auch von wirtschaftlichem und politischem Erfolg.
Gerade weil wir das wissen und danach handeln, haben wir den Mut und die Zuversicht, unseren gemeinsamen europäischen Auftrag zu erfüllen: Wir wollen das Vereinte Europa, die wirtschaftliche und politische Union freier Völker und Staaten.
Auf dieses Ziel wirken Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland seit vielen Jahrzehnten hin – seit einer Zeit, in der auch Sie, lieber Freund, bereits an der Seite von Robert Schuman dafür arbeiteten.
Die deutsch-französische Freundschaft und Partnerschaft ist gegen niemanden gerichtet. Sie beansprucht keine Exklusivität.
Es ist erklärter Inhalt des Elysée-Vertrages von 1963, der Charta der deutsch-französischen Partnerschaft, daß Deutsche und Franzosen gemeinsam eine besondere europäische Verantwortung übernehmen und im europäischen Einigungsprozeß gemeinsam als treibende Kraft wirken.
So wie das allmählich zusammenwachsende Europa den Rahmen für die grundlegende Wandlung des deutsch-französischen Verhältnisses bot, so war und ist diese Gemeinsamkeit von Franzosen und Deutschen auch Voraussetzung, Grundlage und bleibender Antrieb für den europäischen Einigungsprozeß.
Immer wieder hat sich gezeigt, wie deutsch-französische Initiativen der europäischen Einigung neuen Auftrieb gegeben haben. Ich erinnere vor allem an die Einheitliche Akte.
Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, daß das europäische Einigungswerk heute in einer – wie ich glaube – entscheidenden Phase steht. Ihr Kernprojekt ist der große europäische Binnenmarkt, den wir bis Ende 1992 verwirklichen wollen. Wir haben uns damit ein ehrgeiziges, gleichwohl realistisches Ziel gesetzt. Wenn die Grenzen wegfallen, wird sich Europa grundlegend verändern: Es wird eine völlig neue Qualität der europäischen Einigung geschaffen.
Ich weiß allerdings, daß bis dahin noch schwierige Hürden zu überwinden sind. Jeder Mitgliedstaat wird auf dem Weg zum Binnenmarkt Opfer bringen und auch von manchen liebgewordenen Besonderheiten Abschied nehmen müssen – auch wir Deutschen. Wir müssen Kompromisse schließen, wenn wir die großen Chancen des gemeinsamen Binnenmarktes nicht verspielen wollen.
Doch es geht heute um mehr als um die Vollendung des Binnenmarktes – die für sich gesehen schon eine der größten Herausforderungen seit der Gründung der Gemeinschaft darstellt.
Es geht auch darum, der Gemeinschaft fortschreitend die Dimension eines gemeinsamen Sozialraumes und eines gemeinsamen Währungsraumes zu eröffnen und eine möglichst weitreichende Übereinstimmung in der Außen- und Sicherheitspolitik zu erreichen.
Die Gemeinschaft muß sich auch ihrer Verantwortung im Umweltschutz mehr als bisher bewußt werden. Hier kommen wir noch viel zu langsam voran.
Wir dürfen nie aus den Augen verlieren, daß Europa nur in dem Maße Gestalt annehmen wird, wie sich die Bürger damit identifizieren können.
Dazu gehört selbstverständlich auch, daß sie ihre persönliche Teilhabe an der politischen Willensbildung wirklich ernst nehmen können. Ich denke hier vor allem an die Befugnisse des Europäischen Parlaments. Ich sehe in deren Erweiterung eine Frage, die unser demokratisches Selbstverständnis als Gemeinschaft freiheitlicher Staaten in besonderem Maße berührt.
Nicht nur die Europäer, sondern auch viele Beobachter aus anderen Kontinenten begreifen: Die Europäische Gemeinschaft befindet sich zur Zeit in einer tiefgreifenden Reformphase – in der einschneidendsten seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge. Die Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes wird einen Schub bewirken, der nicht nur wichtige wirtschaftliche Impulse gibt, sondern der den Einigungsprozeß auch politisch entscheidend voranbringt.
Diese Bewährungsprobe im Innern fällt zusammen mit einer weiteren Herausforderung der Gemeinschaft – einer Herausforderung in den Beziehungen nach außen.
Die West-Ost-Beziehungen sind in einer Weise in Bewegung gekommen, wie es noch vor wenigen Jahren kaum jemand für möglich gehalten hätte. Die Festigkeit und Geschlossenheit des Westens sowie die neuen Entwicklungen im Osten haben Chancen eröffnet, die uns mit Hoffnung erfüllen. Wir nutzen diese Chancen - wie ich es soeben in Moskau tat, wo demnächst Staatspräsident Mitterrand Gast sein wird -, und wir handeln dabei mit Offenheit für die Möglichkeiten und mit klarem Blick für die Realitäten. Zu diesen Realitäten gehören vor allem die fortbestehenden Unterschiede zwischen den Staats- und Gesellschaftsordnungen.
Weitere Fortschritte in den West-Ost-Beziehungen sind auch davon abhängig, daß wir in der Sicherheits- wie in der Ostpolitik gemeinsame Positionen bestimmen und diese dann geschlossen vertreten.
Wir müssen eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik schaffen – in enger Abstimmung und Partnerschaft mit unseren Freunden in Nordamerika. Denn die Brücke über den Atlantik wird nur dann auf Dauer halten können, wenn sie auf beiden Seiten auf festgefügten Pfeilern ruht.
Wir Europäer müssen bereit sein, einen größeren Teil der Verantwortung auch tatsächlich zu übernehmen. Damit haben wir begonnen. So wurde am 22. Januar in Paris ein gemeinsamer deutsch-französischer Verteidigungs- und Sicherheitsrat errichtet. Wir haben damit die Konsequenz aus der Tatsache gezogen, daß Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland nur noch gemeinsam Sicherheit finden können.
Vor kurzem wurde auch mit der Aufstellung eines integrierten Truppenverbandes begonnen. Diese deutsch-französische Brigade ist ein Symbol für die Schicksalsgemeinschaft, zu der unsere Länder mehr denn je zusammengewachsen sind – aber sie ist mehr als ein Symbol. Sie versteht sich als eine Keimzelle, die sich weiterentwickeln kann – und, wie ich hoffe, weiterentwickeln wird.
Wir dürfen aber unsere immer engere Zusammenarbeit in der Außenpolitik – in Europa wie zwischen unseren beiden Ländern – nicht nur auf Verteidigungsfragen konzentrieren. Die Sicherung des Friedens in Freiheit setzt mehr voraus als Verteidigungsbereitschaft sowie Rüstungskontrolle und ausgewogene Abrüstung.
Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland sollten die jetzt vor uns liegende Phase der Ostpolitik aktiv und – wo immer möglich – gemeinsam mitgestalten.
Erste Ansätze hierzu sind bereits vorhanden, und ich wünsche mir, daß wir sie gemeinsam fortentwickeln können – und daß schließlich auch andere Partnerländer daran mitwirken. So könnten wir deutlich machen, daß wir in einem Kernbereich der Außenpolitik zusammenstehen und uns hier nicht auseinander dividieren lassen.
Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland lassen sich dabei von ihrer gemeinsamen Mitverantwortung für die Menschen in ganz Europa leiten – und von ihrer konkreten Vision: Gemeinsam wollen wir eine europäische Friedensordnung schaffen, die alle Völker unseres Kontinents friedlich und in Freiheit vereint. Das streben wir an - gerade François Mitterrand und ich persönlich -, dem widmen wir unsere Kraft, und die Europäische Gemeinschaft ist für uns dabei ein überzeugendes Modell: als Vorbild für ein Werk des Friedens aller Europäer.
Vor vierzig Jahren, im Herbst 1948, traf ich mich – als Achtzehnjähriger – mit gleichgesinnten jungen Franzosen und Deutschen an der deutsch-französischen Grenze in meiner pfälzischen Heimat bei Weißenburg. Wir hatten eine große Vision, wir feierten Verbrüderung und glaubten, Europa werde so Wirklichkeit.
Es war ein weiter und oft schwieriger Weg in diesen Jahrzehnten. Aber aus der Vision wurde eine Realität.
Raymond Aron hat das Ziel richtig beschrieben, als er sagte: "Die europäische oder atlantische Gemeinschaft ist nicht Gegenstand einer flüchtigen Begeisterung. Sie ist das Endziel einer wertefordernden und sinngebenden Anstrengung, wie es das Leben selbst sein soll."
Stellen wir uns dieser Anstrengung – Franzosen und Deutsche, alle Europäer. Werden wir niemals müde, für das in Freiheit vereinte Europa zu streiten – als gemeinsame Zukunft für unsere Kinder und Enkel sowie all jene, die nach uns kommen. Es lebe die deutsch-französische Freundschaft! Es lebe Europa!