Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
zunächst danke ich Ihnen für Ihre kluge und klare Rede. Danken möchte ich Ihnen auch für die liebenswürdigen Worte, die Sie für die beiden diesjährigen Preisträger fanden, insbesondere für denjenigen, der Ihnen gerade antwortet. Aber letztendlich setzen wir lediglich die lange Reihe von verantwortungsbewußten Männern und Frauen fort, die angesichts der Konflikte, die uns trennten, Initiative ergriffen und im Namen unserer beiden Völker handelten und sprachen.
Ich danke dem Komitee zur Verleihung des Karlspreises, das sich dieses Jahr entschloß, diese Ehrenbekundung nicht nur einer einzelnen beziehungsweise zwei Personen zukommen zu lassen, sondern das Werk zu ehren, das von zwei Ländern solidarisch geschaffen wurde: von der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik. Und dies in dem großen Kontext, der uns in Gedanken immer nahe ist, den wir als Gemeinschaft bezeichnen oder ganz einfach als Europa, wobei diese beiden Begriffe nicht zwangsläufig dieselbe Bedeutung haben, sich aber durchaus miteinander verbinden lassen.
Deutschland und Frankreich - nicht nur wir, sondern vor uns schon unsere Väter haben die Zerrissenheit dieser beiden Länder erlebt. Warum haben wir uns wieder verbündet und unsere Beziehungen neu definiert, zwei Länder, die sich in der Vergangenheit als Erbfeinde betrachteten? So wie Großbritannien und Frankreich es taten, so wie Frankreich und Spanien - zumindest während einiger Generationen -, und damit soll die Aufzählung auch beendet sein. Ich habe vor kurzem festgestellt, daß es in Europa ein einziges Land gibt, mit dem Frankreich nicht Krieg geführt hat: das ist Dänemark. Dort möchte ich diese Worte gerne wiederholen; vielleicht anläßlich eines Aufenthaltes in Kopenhagen. Das bedeutet nicht, daß das französische Volk besonders kriegerisch ist; Vertreter eines jeden Landes könnten hier dieselben Äußerungen treffen.
Ohne die Versöhnung, mit der das Ende des Zweiten Weltkrieges besiegelt wurde, ohne das eingegangene Versprechen, auf die Jahrhundertfeindschaft eine solide Zusammenarbeit folgen zu lassen, wäre jeder Gedanke an den Aufbau eines Vereinten Europa verlorene Mühe gewesen. Die Verbindung zwischen Deutschland und Frankreich, die im 19. und im 20. Jahrhundert extrem gelitten hat, verkörpert nicht nur für sich genommen alle Chancen eines vereinten Europa. Man muß darüber hinaus die Frage stellen, wie der Aufbau eines vereinten Europa ohne diese Verbindung, ohne eine Berücksichtigung ihrer geschichtlichen und geographischen Gegebenheiten, überhaupt möglich sein soll.
Deshalb ist es für mich eine besondere Freude, in diesem Jahr, in dem gleichzeitig der 25. Jahrestag der Unterzeichnung des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages gefeiert wird, zusammen mit dem Bundeskanzler Helmut Kohl den Karlspreis als ehrenvolle Auszeichnung entgegenzunehmen. Im Zuge unserer Gespräche und unserer Arbeit entstand zwischen uns eine solide Verständigungsbasis, eine Freundschaft. Ich hatte schon die Gelegenheit gehabt, zusammen mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt an der Gestaltung dieses Unternehmens zu arbeiten, wie auch - in anderen Funktionen und als Inhaber anderer Ämter - mit Bundeskanzler Brandt. Auch meine Vorgänger haben alle ihren Teil an unserer gemeinsamen Aufgabe erfüllt. Deshalb, und das möchte ich hier wiederholen, deshalb ist unsere Leistung Teil einer Gesamtleistung, die mehr als bloßen Willen beweist, mehr als die Entscheidungen einzelner Menschen; vielmehr trägt sie wahrhaftig Sinn und Bedeutung von Geschichte.
Es berührt mich sehr, hier und heute Seine und Ihre Majestät, den König und die Königin von Spanien zu sehen, deren Land mit großer Klarheit sein Engagement für Europa manifestiert. Ebenso freue ich mich sehr über die Anwesenheit Seiner Königlichen Hoheit, des Großfürsten von Luxemburg: seinem Volk wurde vor wenigen Jahren der Karlspreis verliehen, und Luxemburg spielt als europäisches Land eine zentrale Rolle beim Aufbau der europäischen Gemeinschaft. Ich muß sagen, daß alle hier anwesenden Persönlichkeiten, die bereits durch den Vertreter der Stadt Aachen und den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland begrüßt wurden, dem Bundeskanzler Helmut Kohl und mir einen äußerst herzlichen Empfang bieten, dessen Bedeutung ich zu würdigen weiß und dem ich persönlich größte Wichtigkeit beimesse.
Bei der Durchsicht der Namensliste der Preisträger, die im Lauf der Jahre von Ihnen erwählt wurden, habe ich eine ganze Reihe von Persönlichkeiten gefunden, die maßgeblich an der Gründung des vereinten Europa beteiligt waren und alle aus den Gebieten stammen, die früher - wir sind hier in Aachen - die dotharingie carolingienne bildeten: Adenauer ist Rheinländer, Spaak Belgier, De Gasperi Lombarde, Schuman ist gebürtiger Luxemburger mit der Wahlheimat Lothringen.
Ihnen allen verdanken wir die in der letzten Zeit gemachten Fortschritte, und natürlich auch meinem Landsmann aus der Charente, Jean Monnet. Wir stammen beide aus zwei kleinen, nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegenden Städten, und ich hatte, glaube ich, als Kind die Gelegenheit, mit Bewunderung auf diesen Mann zu blicken, der bereits jenseits der europäischen Grenzen Anerkennung genoß, als er aus den Vereinigten Staaten zurückkehrte. Die Entwicklung dieses Menschen, dessen Andenken wir in einigen Tagen in Paris im Pantheon feiern werden, konnte ich damals nur erahnen. Ja, diese sind es und andere auch, die Europa gemacht haben, weil sie nach dem Desaster begriffen, daß wir weder die Chance hätten, auf der Bühne der Welt eine entscheidende Rolle zu spielen, noch die Chance, schlimmeren Desastern zu entgehen, wenn wir nicht in der Lage wären, die uns von der Geschichte gebotenen Hindernisse zu überwinden.
Jene, die 1949 den Karlspreis ins Leben riefen, haben in diesem Kampf entscheidend mitgewirkt, einem Kampf, dessen Ziel in seinen Anfängen eher ein Traum zu sein schien, der Traum einiger weniger. Aber glauben Sie mir, wenn man heute die Realität betrachtet, so bemerkt man, daß dieser Traum immer noch und noch lange Aufmerksamkeit und Beständigkeit verlangt.
In Aachen, wo ich mich bereits vor kurzem schon einmal aufhielt, hier in diesem Saal und in dem Dom, dem mein leidenschaftliches Interesse gilt, in dieser Stadt also ist das gemeinsame Erbe von Franzosen und Deutschen in allen Dingen, in den Bauwerken und in den geschichtlichen Tatbeständen spürbar.
Sie, Herr Bundespräsident, haben soeben selbst daran erinnert: vor mehr als einem Jahrtausend entschloß sich ein Herrscher, ein Nomade, wie seinerzeit üblich, sich in Aachen niederzulassen und diese Stadt zum Zentrum eines Reiches zu machen, in dem Völker des aktuellen Europa zum ersten Mal ein Zusammenleben gestalteten.
Aus dieser Grundsteinlegung entstanden eines Tages Deutschland und Frankreich. Zu der einen Zeit vereinigt, trennten und bekämpften sich unsere Völker später. Aber immer setzten sie ihre einzelne Geschichte zu ihrem gemeinsamen Ursprung in Beziehung. Noch heute sind sie davon geprägt. Das paradoxe Schicksal Europas nach Karl dem Großen besteht aus eben diesen mörderischen Konflikten, dem immer wiederkehrenden Haß und den unaufhörlichen Racheakten. Gleichzeitig aber überlebte die Idee der Gemeinsamkeit, und es gab zu jeder Zeit Menschen, die die Vitalität der europäischen Kultur, unserer Kultur, vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert erhalten haben.
Europa, das "petit cap", wie Paul Valéry sagt, ist für Geographen lediglich eine kleine Halbinsel, verbunden mit dem riesigen eurasischen Kontinent. Das Europa der Politik und der Wirtschaft hingegen ist in seiner Konzeption völlig neu, auch wenn schon früh bedeutungsvolle Persönlichkeiten entsprechende Träume hegten, wie zum Beispiel unser französischer König Henri IV. oder Kant mit seiner Generalkonföderation der Europäischen Staaten. Aber das Europa der Ideen und der Kultur hat schon immer existiert, trotz der fürchterlichsten kriegerischen Auseinandersetzungen.
Und Aachen war für dieses Europa ein Ort der Renaissance. In diesem Sinne grüße ich diese Stadt.
Ich werde im folgenden eine klare Beziehung herstellen zwischen den Bestrebungen Karls des Großen, in seinem Reich der Erziehung und der Kunst einen überragenden Stellenwert zu verleihen, und der heutigen Notwendigkeit, die gemeinsame Kultur in Europa zu stärken. Karl der Große war nicht nur ein tapferer Kriegsheld, der, wie man seinerzeit sagte, " das Königreich erweiterte" bis hin zum Rand der slawischen Welt und den Grenzen Iberiens.
Zum Ruhm der Waffen und in dem Bemühen, auf einem Gebiet immenser Größenordnung den inneren Zusammenhalt eines gerade entstandenen Staates zu gewährleisten, erstellte Karl der Große ein Programm zur Förderung von Bildung und Kultur, für dessen Umsetzung er in ganz Europa unterschiedlichste Sachverständige und Fachkräfte mobilisierte. Sie, Herr Bundespräsident, erinnerten in Ihrer Rede daran, daß es sich insbesondere um englische, irische, italienische und spanische Kapazitäten handelte. Karl der Große war einigen unserer Zeitgenossen weit voraus.
Ich bin überzeugt, daß Kultur und Erziehung für einen inneren Zusammenhalt unabdingbare Faktoren darstellen, wie schon anläßlich des vor kurzem stattgefundenen Gipfels in Frankfurt festgestellt wurde. Warum sollten wir vergessen, was Karl der Große vor so langer Zeit begriffen hatte?
Die kostbaren Hinterlassenschaften aus dieser Zeit bezeugen heute noch die minutiöse Ausarbeitung dieser großen Bildungsreform. Das beste Beispiel - gleichzeitig Motor dieser Reform - befand sich in Aachen selbst: die Ecole palatine. Wissenschaftler und Gelehrte versammelten sich hier, um in Anlehnung an Formen und Techniken, die bereits anderswo Erstaunen und Bewunderung geweckt hatten, die Kapelle zu errichten, der später die Errichtung des Domes folgen sollte.
Kurz gesagt, es gab einen Impuls der Erneuerung. Die damals entstandenen Kultur- und Bildungszentren überlebten die Aufteilung des Reiches und die Zwistigkeiten der Völker bis auf den heutigen Tag. Jetzt sind wir aufgefordert, die Methoden zu erneuern und alle sich daraus ergebenen Chancen wahrzunehmen.
Während des gesamten Mittelalters wanderten die Studenten, um ihre Ausbildung zu vervollständigen, von Ost nach West, von Süden nach Norden, von Klöstern zu Universitäten. Die Humanisten der Renaissance gingen nach Italien, Holland und England. Die Philosophie der Aufklärung mit ihrem Ausgangspunkt Paris und die deutsche Romantik verbreiteten sich in großen Wellenbewegungen durch ganz Europa. Und die Interaktionen zwischen Spanien und Frankreich markierten einige der großen Momente der glorreichsten Jahrhunderte unserer wiedergeborenen Kultur.
So reifte - auch unter dem Einfluß noch älterer Geschichte - eine Zivilisationsform heran, die dem Europa von heute eine außerordentliche Chance bietet, eine wirkliche Chance auf Erfolg.
Ich möchte hier die Wichtigkeit eines Europa der Kultur noch einmal unterstreichen, denn die Kultur ist ein Verbindungsstoff, der zwar in unserer Reichweite liegt, aber dennoch allzu oft nicht genutzt wird.
Wir wollten den gemeinsamen Markt - nicht wahr, Helmut Kohl? . Die diesbezüglichen Gespräche, die in Mailand in einem äußerst harschen Ton begonnen hatten und in Luxemburg fortgesetzt und zum Abschluß gebracht wurden, mündeten in ein Abkommen, das nicht aus Zufall entstand und von Anfang an größte Schwierigkeiten überwinden mußte.
Und schon nähert sich die Erfüllung: 1992 / 93 ist nicht mehr weit. Die ersten gemeinsamen politischen Institutionen existieren bereits; sie funktionieren. Zwar nicht immer so gut, wie es sein sollte, auch nicht immer so schnell, aber wir sind auf dem richtigen Weg. Und daneben gibt es eben das lebendige Europa, das Europa der Bürger, das Vertrauen in die Zukunft entwickeln muß und sich seiner Kultur viel stärker bewußt sein sollte.
Unzählige bereits existierende Verbindungen brauchen nur genutzt zu werden, die modernen Kommunikationsmittel bieten uns eine immense Erleichterung, und trotzdem sehen wir nur Risiken und Gefahren.
Das Europa der Kultur scheint sich in dem Moment aufzulösen, in dem es bereits existiert, und wenn dieses Europa sich auflösen sollte, wird es nie ein dauerhaftes Europa der Politik und der Wirtschaft geben. Ein Europa der Kultur sollte im Leben des Einzelnen früh beginnen: durch den Erwerb von Fremdsprachen, durch fundierten Geschichtsunterricht, durch Auslandssemester, die die Zusammenarbeit von Studenten verschiedener Länder fördern, wie es bereits geschieht im Rahmen ausgezeichneter Programme namens Erasmus, Comete, Yes oder Jeunesse pour l'Europe. Die Zielsetzung der Verwirklichung einer gemeinsamen Kultur betrifft alle intellektuellen und künstlerischen Disziplinen, ebenso wie die Übersetzung von Büchern, die einer Förderung bedarf, und die europäischen Bibliotheken, die ein Verbindungssystem benötigen, sowie das kulturelle Erbe im Bereich der Architektur.
Ich habe den Brand der Altstadt Lissabons - und ich glaube, da bin ich nicht der einzige- , als ein persönliches Drama empfunden. Alles ist uns gemeinsam.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle, ein wenig bei einem Bereich zu verweilen, der mir sehr wichtig ist, der zu den neuesten gehört und alles in allem viele Gefahren in sich birgt: die audio-visuelle Produktion, die zugleich Industrie, Kunst und modernes Lehrmittel repräsentiert. Sie kann für Europa von außerordentlichem Nutzen sein. Unsere Länder verzeichnen im Bereich von Film und Fernsehen eine hohe Anzahl kreativer Kräfte. Mit dem schnellen Anstieg der Anzahl der Sender vervielfältigen sich die Möglichkeiten der Ausstrahlung per Satellit. Der europäische Markt wird 1992 mehr als 100.000 Stunden Fernsehprogramm bieten, und von 100 heute in Europa gekauften Programmstunden stammen lediglich 8 aus einem anderen europäischen Land; wir alle zusammengenommen repräsentieren gerade 15% des Weltexports. Es liegt klar auf der Hand: wenn wir die japanischen Techniken und die amerikanische Kultur aufnehmen, so interessant die Techniken und so bereichernd die Kultur auch sein mögen, was wird dann aus unseren Wurzeln, aus unserer Vielfältigkeit, die schon so viele Schwierigkeiten überwinden mußte bei dem Bemühen, sich zu erhalten und zu vervollständigen?
Aus diesem Grund messe ich dem audiovisuellen Projekt EUREKA große Bedeutung bei, denn es erlaubt die Kreation und die Produktion von umfassenden Neuheiten und bietet unserer Kultur und ihrer Entwicklung den notwendigen Raum.
Es bestehen auch schon andere Projekte, die unbedingt weiterentwickelt werden müssen. Ich denke an Eurimages, einen Fonds, der Koproduktionen und Ausstrahlungen von
Gemeinschaftsproduktionen mehrere europäischer Länder unterstützt.
Natürlich muß man gegenüber anderen Einflüssen seine Offenheit bewahren. Was ich soeben sagte, bedeutet nicht, daß man sich im Hinblick auf andere Ausdrucksformen verschließen sollte, aber wir können nicht eine passive Haltung einnehmen und uns überfluten lassen. Das würde nämlich bedeuten, auf ein eigenes Schaffen und ein eigenes So-sein zu verzichten. Wo formen sich die Denkstrukturen, die Phantasie, der Traum und die Sprache, wenn nicht dort, wo die Kultur unserer Vorfahren sich formte, auf diesem Kontinent, der seinerseits andere in ihrem Werden beeinflußte? Sollten wir die ersten sein, die auf diese Fähigkeit des Austausches und der Reflektion verzichten? Ich hoffe, daß Europa dies versteht.
Die Erschaffung einer gemeinsamen Kultur ist eine Form des Kampfes. Wir dürfen den Anschluß an die Moderne nicht verpassen. Frankreich und Deutschland haben in dieser Hinsicht eine besondere Verantwortung. Ich denke dabei an die Bedeutung des Projektes eines deutsch-französischen Senders, den ersten Schritt in Richtung eines wirklich europäischen kulturellen Fernsehens. Über die Technik, mit deren Hilfe wir die Sprachbarrieren überwinden können, indem ein Programm simultan in mehreren Sprachen gesendet wird, verfügen wir bereits.
Wir brauchen eine europäische Norm, die in der Lage ist, im interkontinentalen Wettbewerb auf höchstem Standard mitzuhalten; diese europäische Norm hängt in ihrer Gestaltung allein von uns ab.
Seien wir so klug, die Kreativität unserer verschiedenen Länder im Bereich von Kunst und Technik und die Gesamtheit von Geschmack und Wertvorstellungen, "Zivilisation" genannt, im Sinne Europas zu nutzen. Denn jede unterlassene Anstrengung in diesem Bereich läßt uns den Anschluß an die anderen verpassen.
Herr Bundespräsident, Sie haben vorhin die Tatsache unterstrichen - und mit gutem Grund; es handelt sich schließlich um ein Thema, das in der heutigen Zeit mehr und mehr an Bedeutung gewinnt und das ich selbst nicht müde werde anzusprechen - Sie unterstrichen die Tatsache, daß Europa nicht an den Grenzen der Europäischen Gemeinschaft endet. Sie erinnerten daran, daß wir von Osten nach Westen Europäer sind. Die großen Universitäten des Mittelalters befanden sich in Valencia ebenso wie in Budapest, in Heidelberg und Krakau, in Paris und in Prag, und die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
Aus reinem persönlichen Interesse bin ich nach Salamanca und Portugal gereist, um dort das Bildungswesen in Augenschein zu nehmen. Ich habe dieselben Erkenntnisse gewonnen wie an vielen anderen Orten auch: es herrschen der kühne Geist des Wissensdurstes und der Wille, den modernen Formen unserer Kultur Ausdruck zu verleihen.
Niemand kann besser als die Deutschen Zeugnis ablegen von der Nähe, die - geographischen Ursprungs - sich wandelt in eine Nähe des Bewußtseins und der Hoffnung. Das Europa, das wir aufbauen wollen, will Herr seines eigenen Schicksals sein und muß sich seine Offenheit gegenüber allen seinen Teilen erhalten. Europa, das sind wir und andere. Zwischen uns und den anderen soll kein Gedanke der Rivalität entstehen: sie existiert in den Gegebenheiten, den Ideologien, den wirtschaftlichen Interessen, den Wirtschaftssystemen und den philosophischen Hintergründen. Aber warum sollten diese unterschiedlichen Formen in einer falschen Zeitlosigkeit festgeschrieben werden? Was wir machen, wird Europa seine eigenen Werte vorführen, die es selbst noch nicht erkannt hat. Und wir müssen uns umfassend mit diesem Europa auseinandersetzen, um uns selbst eine Vollständigkeit zu verleihen.
Geschichte und Geographie stehen gleichzeitig auch für die Sicherheit und das Interesse der Allgemeinheit. Wie sollen die Konflikte sich feindlich gesonnener Blöcke überwunden werden? Ich persönlich bin fest davon überzeugt, daß die Existenz der Europäischen Gemeinschaft, des vereinigten Europa, das sich seiner Werte bewußt ist, uns dazu verhilft, das andere Europa weitaus besser zu verstehen. Die Europäische Gemeinschaft ist ein wichtiges Instrument, sie führt nicht zur Antinomie, sondern zur Verbindung. Jedes Mal, wenn ich sie erwähne, geschieht es in dem Bewußtsein derer, die ihr nicht angehören, die uns jenseits ihrer Grenzen aufmerksamer zuhören, als wir für möglich halten. Ich sage dies nicht im Sinne einer möglichen Expansionspolitik. Wir bilden bereits ein geradezu unermeßliches Reich. Aber man muß sich entscheiden, welche Sprache gesprochen werden soll und wovon man sprechen will. In der Sprache des Wettbewerbs, und, wenn dies nicht sein sollte, in der des militärischen Wettbewerbs?
Es hat mich mit Freude erfüllt, als die beiden größten Weltmächte den Dialog zur Abrüstung aufnahmen. In welcher Form auch immer, es muß die Hoffnung bleiben, daß diese Tendenz sich fortsetzt und vergrößert. Dialoge zur Zwischenlagerung von Atomwaffen, natürlich, aber auch zu strategischen Waffen, klassischen, konventionellen und chemischen Waffen, die sich auf europäischem Gebiet konzentrieren, und zwar zum Nachteil von Osteuropa. Wir müssen jene, die sich, aus welchem Motiv auch immer, in dieser Angelegenheit engagiert haben, unterstützen anstatt sie zu bremsen.
Ich repräsentiere eines der fünf Länder, die über atomare Waffenkraft verfügen. Ich vertrete den Standpunkt, daß diese Macht für mein Land die Möglichkeit verkörpert - wie Sie, Herr Bundespräsident, es vorhin ganz richtig formulierten -, nicht etwa einen Krieg zu gewinnen, sondern ihn zu verhindern. Ich halte es für absolut wünschenswert, daß eine solche Konzeption für die Gesamtheit der westeuropäischen Verbündeten gilt. Nicht, um einen Krieg zu gewinnen, denn was würde man schon gewinnen? - sondern um ihn zu verhindern. Das soll nicht bedeuten, daß man die Augen verschließt, den Herzenswünschen folgt und dabei die Anforderungen der Vernunft und der Geschichte außer acht läßt. Nein, das bedeutet eher, daß man, sobald man einen Partner gefunden hat, der ein solches Engagement akzeptiert, diesen auffordert, gemeinsam noch einen Schritt weiterzugehen und die notwendigen Kontrollen einzuführen. Es muß betont werden, daß die Kontrolle unauflöslich mit der Abrüstung beziehungsweise mit der kollektiven Sicherheit verbunden ist und daß zum ersten Mal ein System etabliert werden muß, das dort Kontrollen vornimmt, wo Waffen stationiert sind, die man für feindliche halten könnte.
Alle diese Überlegungen sind, wie Sie, Herr Bundespräsident, bereits betonten, eng verbunden mit dem Problem eines Europa der Menschenrechte. Es kann nicht unser Bestreben sein, zu verleugnen, zu vergessen und so zu tun, als ob die Menschenrechte in Europa in jeder Hinsicht Anerkennung und Respekt fänden. Beweise müssen erbracht werden, selbst wenn die Konzeptionen der Beziehung zwischen Mensch und Staat, zwischen Bürger und Gesellschaft, zwischen Individuum und Gemeinschaft, divergieren und erst mit der Zeit in eine gemeinsame Auffassung münden können. Der Aufbau einer dauerhaften Gemeinschaft ist nur möglich, wenn in jedem dazugehörigen System die Menschenrechte respektiert werden. Das muß selbstverständlich sein. Aber wir können uns andererseits auch nicht des Fortschritts unserer Zivilisation, unserer Existenzweise oder unserer Regierungssysteme bedienen, die unseren Bürgern Horte des Friedens bieten, ohne zu erkennen, daß anderswo wichtige Entwicklungen ihren Anfang genommen haben.
Die Freiheit, schlicht und einfach die Freiheit, nichts vermögen wir ohne die Freiheit. Und nichts vermögen wir ohne die Kultur. Und vielleicht haben diese beiden unterschiedlichen Begriffe sogar dieselbe Bedeutung.
Ich komme zum Ende, meine Damen und Herren; wir befinden uns kurz vor dem Beginn des Jahres 1989, einem Jahr, das für uns, die Franzosen, aber auch für den Rest der Welt, mit ganz bestimmten Erinnerungen verbunden ist, und es trifft sich gut, daß nach Deutschland, das seine Pflichten wahrhaft gut erfüllt hat, Frankreich und Spanien bei der Gestaltung der Geschicke der Europäischen Gemeinschaft für das nächste Jahr den Vorsitz übernehmen.
Wir müssen klare Prioritäten setzen. Die meinigen habe ich soeben genannt und wiederhole sie gerne: die Errichtung eines politischen Europa, getragen von soliden Institutionen und gekennzeichnet von einem intensiven demokratischen Leben, das durch das Parlament gewährleistet wird, eine verbesserte Kommunikation zwischen jenen, die regieren und jenen, die regiert werden. Diese Ziele müssen mit Ausdauer und Geduld verfolgt werden. Angesichts der Vereinbarungen zum Europäischen Markt, die 1992-93 in Kraft treten, wäre es wünschenswert, wenn Europa sich im nächsten Jahr definitiv für eine einheitliche Währung entscheidet und damit auch die Ausdruckskraft seiner gemeinsamen Kultur stärkt. Kulturelle Projekte auf audiovisuellem Sektor, wie ich sie vorhin erwähnte, sollten konkretisiert werden. Soziale Konzeptionen sollten in die bereits bestehenden Planungen einfließen. Ein dauerhaftes Europa ist nicht vorstellbar, solange die Arbeiter und Angestellten eines jeden Landes ihre elementaren Rechte nicht durch gemeinsame Vereinbarungen gesichert sehen. Die Arbeitsorganisation und die Sicherung der Arbeitsplätze müssen im Lauf des nächsten Jahres entscheidende konkrete Entwicklungen und Verbesserungen durchlaufen. Eine Währung, eine Kultur, Eureka audiovisuell, ein sozialer Raum und auch eine Umwelt sollen im Vordergrund stehen. Denn die Schädigung der Umwelt kennt weder europäische noch übrigens kontinentale Grenzen.
Schließlich wünsche ich mir, daß die Europäische Gemeinschaft ihre bestehenden Pflichten gegenüber den Ländern, die sich in schwierigen Entwicklungsprozessen befinden und die man ungeschickterweise als "Länder der Dritten Welt" bezeichnet, besser und sorgfältiger wahrnimmt. Für uns wird es kein wirkliches Wachstum geben, solange wir arme Länder beziehungsweise Länder, die mit jedem Tag mehr verarmen, nur weil sie im erforderlichen Moment nicht über die erforderlichen Techniken verfügen, nicht unterstützen. Unsere Welt hat in der Zeit des Kolonialismus ihre Macht und ihre Kraft benutzt, um die Basis eines egoistischen Paktes zu erstellen. Dieser Pakt sorgte dafür, daß fast ausschließlich wir die Nutznießer der Reichtümer der modernen Welt geworden sind.
Meine Damen und Herren, das war es, was ich Ihnen hier in Aachen sagen wollte.
Jene, die, auf den Ruinen des Zweiten Weltkrieges, noch gekennzeichnet von den Wunden, die dieser Krieg geschlagen hatte, sich ein vereintes Europa wünschten, bestätigen dem großen deutschen Dichter Hölderlin seine Worte: "Mit der Gefahr wächst auch die Rettung."
Seien wir uns der Gefahren bewußt, damit wir uns der Rettung widmen können.
Übersetzt von: Sabine Tanneberg