Laudatio von Dr. Richard von Weizsäcker, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

Laudatio von Dr. Richard von Weizsäcker, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

I.

Ihnen, Herr Oberbürgermeister, den Mitgliedern des Karlspreisdirektoriums und allen Aachener Bürgern gilt mein erster Gruß und Dank. Der Karlspreis ist keine Erfindung von ruhmsüchtigen Politikern. Vielmehr hat ihn eine Bürgerinitiative geschaffen. Er hat sich im europäischen Bewußtsein einen zentralen Platz errungen. Wir haben immer wieder Grund, den Bürgern von Aachen dafür zu danken.

In diesem Jahr ist unsere Dankbarkeit besonders groß und zugleich besonders einfach zu begründen. Der Karlspreis ist ein Lohn für hervorragende Verdienste um die europäische Einigung. Seit Kriegsende ist sie unser Ziel. Das Herzstück dieser Aufgabe war die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. Ihr Motor ist und bleibt die deutsch-französische Zusammenarbeit, die letztlich für den europäischen Erfolg entscheidend sein wird, und zwar gemeinsam, dort paßt der Karlspreis seinem tieferen Sinne nach am genauesten hin. Es gibt daher auch keinen treffenderen Ausdruck, als ihn gemeinsam an einen Franzosen und einen Deutschen zu verleihen. Erstaunlich ist eigentlich nur, daß dies heute erstmals geschieht. Um so höher ist der Wert, um so größer der Dank, um so herzlicher unser Glückwunsch an die Preisträger.

Monsieur le Président de la République, je vous salue de tout coeur comme chef d'Etat de notre voisin la France et, si j'ose ainsi dire, aussi au nom de mes compatriotes comme ami tout personnel.

Ich grüße gleichfalls mit herzlicher Freude Sie, Herr Bundeskanzler, der Sie durch Ihre engere Heimat, Ihre Überzeugungen und Ihren Lebensweg zu einem ebenso tatkräftigen wie wahrhaft verläßlichen Vorkämpfer der deutsch-französischen Zusammenarbeit und damit der Europäischen Union geworden sind.


II.

Deutsche und Franzosen zusammen beim Karlspreis – ist das nicht ein etwas verspätetes Familienfest im Rahmen des alten Frankenreiches Karls des Großen? Ist es vielleicht sogar etwas verdächtig für andere Europäer? Selbst für solche, die zwar keine Wiederbelebung der Karolinger befürchten, sich aber gelegentlich auch im heutigen Europa von einer deutsch-französischen Intimität irritiert fühlen, weil sie ihnen zu eng und zu exklusiv erscheint, oder die umgekehrt befürchten, daß die deutsch-französische Nähe nur ein Selbstzweck sei, aber nicht hinreichend eurodynamisch?

Nun, ich glaube, es entspricht dem gemeinsamen Interesse der Deutschen und der Franzosen, bei keinem Nachbarn Empfindlichkeiten zu erzeugen oder Hoffnungen zu enttäuschen. Sie respektieren und sie brauchen jeden Partner in Europa. Beide wissen sehr wohl, was sie den anderen Ländern verdanken und schulden.

Frankreich und Deutschland sind keine exklusiven Duopolisten. Sie überschätzen ihre Reichweite nicht. Ebensowenig jedoch verkennen sie ihr Gewicht in Europa. Sie wissen, was allen wahren Europäern stets bewußt war, allen voran dem großen Winston Churchill, daß es ohne eine deutsch-französische Pionierarbeit kein geeintes Europa geben wird. Deshalb werden unsere beiden Länder niemals Schritte in Richtung Europa nur aus Sorge vor Mißverständnissen unterlassen dürfen. Wir nehmen die Empfindungen unserer Partner ernst. Auch in ihrem Interesse höher rangiert aber die Verantwortung für Europas Zukunft höher.

Der Karlspreis hat stets diese Verantwortung gestärkt. Es ist mir daher eine große Freude, würdige frühere Preisträger, gerade auch aus anderen Ländern, unter uns zu wissen:

-König Juan Carlos von Spanien – und an seiner Seite die Königin –, der sein Land in europäischem Geist anführt;
-Großherzog Jean von Luxemburg und die Großherzogin, Preisträger mit ihrem ganzen Volk für vorbildliche europäische Gesinnung und Arbeit;
-Edward Heath und Joseph Luns, bewährte und willkommene Europäer aus Großbritannien und den Niederlanden.

Auch historisch gesprochen geben Reminiszenzen an die Karolinger Zeit keinen Anlaß zu europäischer Sorge. Weit eher könnte man ermutigende Beispiele entdecken, so etwa das folgende: Der einflußreichste Berater und Freund Karls war ein Angelsachse, Alkuin von York. Nach der Ausbreitung angelsächsischer Religiosität auf weite Teile des Kontinents durch Bonifatius und andere lenkte der hochgelehrte Alkuin die Schritte Karls des Großen in Richtung auf Macht und Weisheit. Der damals bedeutendste angelsächsische König Offa von Merzien schloß mit Karl den ersten europäischen Handelsvertrag. Ja, mehr als das: Die neue Silbermünze, die Karl im Frankenreich in Umlauf brachte (es war der schwere Denar, der Vorläufer des Pfennig), wurde von König Offa als Penny im Inselreich durchgesetzt. Was wollen wir mehr? Währungsunion, über den Kanal hinweg, schon vor zwölfhundert Jahren! Welch hoffnungsvoller Ansporn für Männer und auch für Frauen, die sich selbst so gern als Anführer Europas verstehen!

Karl trug den Namen Pater europae. Gemeint war mehr als ein Begriff der Herrschaft und der Geographie. Eine geistige Gestalt war entstanden. Politisch blieb sie ein Torso. Aber der Grund zu einer neuen, bis heute wirksamen Entwicklung war gelegt. In der karolingischen Renaissance wurde die Ära der Bildung und des Unterrichts im aufgehenden Europa eröffnet. Ihre Basis bildeten griechische Philosophie, Christentum und Römisches Recht. Später folgten aus ihr Scholastik und Reformation, Aufklärung und Französische Revolution, Menschenrechte und Verfassungsstaat.

Karls Reich ist nicht der Vorläufer des politischen Europa, nach dem wir heute streben. Wir sind nicht seine Vollender. Aber seine Maximen haben nicht aufgehört zu wirken und immer neue Gestalt zu gewinnen. So geht es im Laufe der europäischen Geschichte darum, Kultur in Freiheit zu entfalten, der Freiheit eine Bindung zu geben, die Ordnung dem Frieden dienstbar zu machen, soziales Zusammenleben durch gesetztes Recht zu ermöglichen.


III.

Deutschland und Frankreich sind Geschwister, die seit über tausend Jahren einen je eigenen Weg gegangen sind. Oftmals haben sie – nach den Worten von Paul Veléry – ein Rendezvous in der Geschichte gehabt, aber regelmäßig war nur einer von beiden zur Stelle. Die Sprachprobleme waren früher zumeist geringer als heute. Doch was half es? Als die Herrschenden noch ohne Übersetzer miteinander sprechen konnten, führten sie dennoch Kriege gegeneinander. Heute sind wir friedliche Nachbarn, mit Hilfe von Dolmetscherinnen, denen ich bei dieser Gelegenheit gerne meinen ganz besonderen Respekt bezeugen möchte.

Immer wieder waren es Paare, die die deutsch-französischen Bindungen festigten:
-Friedrich und Voltaire;
-Briand und Stresemann, die sich für ihre maßvolle Locarno-Politik beide zu Hause von Nationalisten beschimpfen lassen mußten;
-Adenauer und Schuman, die den Plan von Jean Monnet umsetzten, jenes im Denken und Handeln gleichermaßen bedeutenden, wahrhaft europäischen Menschen, dessen Geburtstag sich in wenigen Tagen zum hundertsten Male jährt;
-Adenauer und de Gaulle, die Staatsmänner, die der gewachsenen Aussöhnung den festen und bleibenden Rahmen gaben.

Es folgten Pompidou und Brandt in der Zeit des Berlin-Abkommens und des Weges nach Helsinki, danach die enge währungspolitische und weltwirtschaftliche Kooperation von Giscard d'Estaing und Schmidt und nun heute Mitterrand und Kohl.

Die starke Personalisierung der Beziehungen ist kein Zufall. Sie hat sich immer wieder als hilfreich, ja notwendig erwiesen. Denn von allein arrangieren sich die Dinge nicht. Aller Annäherung zum Trotz sind die vorgegebenen Unterschiede zwischen beiden Ländern nach wie vor erheblich. Der liebe Gott hat es mit der geopolitischen Lage Frankreichs besonders gut gemeint. Deutschland war stets äußeren Einflüssen stärker ausgesetzt; es hat mehr Nachbarn als irgend ein anderer europäischer Staat; heute ist es geteilt. Die strategischen Mittel Frankreichs und die der Bundesrepublik Deutschlands decken sich nicht. Die Verfassungen weisen charakteristische Unterschiede auf. Das Spannungsverhältnis zwischen Geist und Macht, den Deutschen traditionell geläufig, ist schon sprachlich gar nicht leicht ins Französische zu übertragen. Der intellektuelle Dialog zwischen Franzosen und Deutschen ist eher selten und nicht einfach. Die Stellung der Intellektuellen in der politischen Kultur beider Länder ist verschieden.

Unterschwellige Zweifelsfragen tauchen wechselseitig ab und zu in der Öffentlichkeit auf. Was meinen die Franzosen mit ihrer Rolle, die sie als Weltmacht verstehen? Welche Folgen hat die Sicherheit ihrer eigenen Nation für den Nachbarn? Wen kann "Hadès" vor dem Hades bewahren? Verstehen wir uns in der Umweltpolitik? Oder auf der anderen Seite: Wie kann man Europa vor einer Hegemonie der Deutschen Mark retten? Gibt es nicht immer wieder deutsche Unwägbarkeiten in der Ostpolitik? Wohin wird sie eine fortdauernde "Gorbimania" noch führen?

Solche Zweifel sind nicht die meinen. Ich sage auch nicht, daß sie die Lage beherrschen. Was ich aber glaube, ist, daß wir mit Unterschieden oder Vorurteilen um so eher fertig werden, je besser wir sie kennen. Und wenn wir ihre Gründe begreifen, sind es nicht Texte und Programme, die sie überwinden, sondern Menschen, die aus Einsicht verantwortlich handeln, die sich persönlich engagieren und die einander vertrauen können.

Das ist es, was François Mitterrand und Helmut Kohl auszeichnet. Die Unterschiede zwischen beiden liegen auf der Hand. Jeder vertritt auf charakteristische Weise sein Land. Sie entstammen nicht nur verschiedenen parteipolitischen Lagern. Wichtiger noch ist, daß sie im raschen Szenenwechsel unseres Jahrhunderts verschiedenen Generationen angehören. Der Franzose: Im Ersten Weltkrieg geboren, im Zweiten Krieg als Soldat verwundet, kriegsgefangen und dem Lager entkommen, 1947 schon Minister. Der Deutsche: Noch ein Kind im Zweiten Krieg, noch ein Schüler, als die Zeit Europas schon angebrochen war.

Und doch konvergieren die Lebensläufe. Beide fühlen sich der Geschichte zutiefst verpflichtet. Beide sind vom Schicksal ihrer Heimat geprägt. Beide ziehen daraus europäische Schlüsse. Im selben Jahr 1948, in dem sich François Mitterrand auf dem Haager Kongreß als überzeugter Europäer exponiert, beteiligt sich Helmut Kohl noch als Primaner am Übergang von der Pfalz ins Elsaß daran, Grenzpfähle zu entfernen und persönliche Freundschaft mit Franzosen zu schließen.

Beide wenden sich mit Leidenschaft der Politik zu. Beide erringen mit Beharrungsvermögen, mit Selbstbewußtsein und machtpolitischem Gespür die exekutive Hauptverantwortung in ihrem Land. Und nun setzen sie beide ihren Einfluß in sehr persönlicher Weise für gute Nachbarschaft und für Europa ein.

Inzwischen haben sich der französische Präsident und der deutsche Bundeskanzler sechzigmal getroffen. Unvergessen bleibt vor allem ihre Begegnung im September 1984 auf den Schlachtfeldern von Verdun, dort, wo der Vater des Bundeskanzlers im Ersten Weltkrieg eingesetzt und wo der französische Präsident im Zeiten Weltkrieg als junger Soldat verwundet worden war. Es war ein Symbol von großer Einprägsamkeit. Symbole ersetzten nicht die harte Arbeit, aber sie bezeugen den Geist, in dem die Arbeit gemeinsam geschieht. Es ist ein Glück und ein Wunder zugleich, es ist der größte Lohn dieses vertrauensvollen Geistes der Gemeinsamkeit, daß die Jugend in beiden Ländern unsere friedliche Nachbarschaft heute für das Normalste und Selbstverständlichste der Welt hält.

François Mitterrand hat die Beziehung unserer beiden Länder immer wieder als Schicksalsgemeinschaft für Europa bezeichnet. Daraus ergeben sich die Aufgaben in der kommenden Zeit.


IV.

In der Gemeinschaft sehen wir dem Binnenmarkt mit verstärktem Vertrauen entgegen. Die Kommission leistet mit Präsident Delors an der Spitze hervorragende Arbeit. Die von uns gesetzte Frist hat große neue Energien mobilisiert. Bis in den Bereich der technologischen Schlüsselindustrien hinein geht es voran.

Noch bleiben schwere Aufgaben zu lösen. Der soziale Gehalt der Gemeinschaft muß erkennbar werden. Beseitigung der Grenzen ist ganz ohne Harmonisierung der Steuern nicht denkbar. Die währungspolitische Diskussion hat zwar einen kräftigen Anstoß bekommen. Es gibt aber noch erhebliche und verständliche wechselseitige Vorbehalte. Die einen wollen eine stabile Währung nicht gegen eine schwächere, inflationsanfälligere europäische Währung eintauschen. Die anderen wehren sich gegen eine Vormachtstellung einer Währung und erwarten eine gleichmäßigere Verteilung der Lasten im Währungssystem.

Die Wirtschaft wächst inzwischen immer enger zusammen. Dies ist, wie die Geschichte lehrt, der mühsame, auf die Dauer aber unaufhaltsame Weg zur Währungsunion und zur politischen Union. Wir brauchen sie, und sie wird kommen.


V.

Unverkennbar ist das Bemühen der Preisträger um eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Es geschieht in voller Übereinstimmung darüber, daß die engen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland den Atlantischen Bündnisrahmen nicht ersetzen, sondern nur verstärken sollen. Das gute Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Rolle in Europa stehen nicht zur Disposition.

Im deutsch- französischen Verhältnis wurden fühlbare Fortschritte erzielt. Im ganzen aber haben es die europäischen Partner in der gemeinsamen Sicherheitspolitik bisher nicht allzuweit gebracht. Die Unterschiede im Status, in der Bewaffnung und in der geostrategischen Lage sind groß, die Fortschritte im Kostensparen durch harmonisierte Beschaffung sind bescheiden. Es ist die politische Union, die es voranzutreiben gilt, wenn die sicherheitspolitische Komponente Gestalt gewinnen soll.


VI.

Entscheidend für die Sicherheit bleibt die Einsicht, die die Atlantischen Partner schon Ende der sechziger Jahre in der Harmel-Doktrin formuliert haben: Zur Sicherheit in Europa gehören die Fähigkeit zur Verteidigung und die Bereitschaft zur Entspannung. Niemand darf daran zweifeln, daß wir unsere Freiheit schützen werden, wenn sie bedroht ist. Auch wenn Kriege im atomaren Zeitalter nicht mehr zu führen, geschweige denn zu gewinnen sind – sie zu verhüten bleibt unsere Aufgabe.

Nicht weniger wichtig für die Sicherheit und den Frieden in Europa aber sind die nichtmilitärischen Komponenten der Zusammenarbeit in ganz Europa. Das alte, das größere Europa gewinnt wieder Gestalt im Bewußtsein der Menschen. Die Zeit ist reif für eine offene Konzeption, die kein europäisches Volk ausschließt.

Lange Zeit gab es keine nennenswerte ostpolitische Verabredung zwischen Paris und Bonn. Um so positiver ist die vertrauensvolle Beratung unserer beiden Preisträger zu bewerten, die den Beziehungen ihrer beiden Länder zur UdSSR und ihren Verbündeten gewidmet ist.

Nun hören wir manche warnenden Stimmen aus anderen Lagern im Westen: Man dürfe keinem blinden Optimismus für Gorbatschows Reformpläne erliegen. Der Westen solle keine Steuergelder für das unfähige sowjetische System verschwenden. Westliche Bankkredite würden nur die ungehinderte Aufrüstung der Roten Armee erleichtern. Es ist seltsam, welches kurzsichtige innerwestliche Konkurrenzdenken, welches mangelnde Selbstbewußtsein, ja welche allzu geringe Treue zu den eigenen Grundsätzen der Freiheit und Menschenwürde aus solchen Sorgen sprechen.

Kein denkender Mensch geht davon aus, daß die sowjetische Führung den Weg der Reform sucht, um uns im Westen einen Gefallen zu tun. Ihr Ziel ist es, ihre Weltmachtstellung zu erhalten. Das kann sie aber nur, wenn sie in der wachsenden weltweiten Interdependenz kooperations- und wettbewerbsfähig wird, was sie zur Zeit nicht ist. Deshalb muß sie im Innern ihr System reformieren. Sollen wir sie daran hindern? Sind wir so schwach, daß wir auf eine systemschwache Sowjetunion angewiesen bleiben? Und wenn wir mit ihr zusammenarbeiten, welches System stärken wir? Das alte aus der Zeit von Stalin bis Breschnew? Oder die Tendenz zu seiner Reform? Kann sich das System drüben überhaupt anders als eben in der Richtung reformieren und stärken, die in Wahrheit unseren Werten näherkommt: Eigenverantwortlichkeit und Mitsprache der Bürger statt zentrales Diktat, rechtlicher Rahmen statt Willkür?

Das ist ja das Dilemma, wie es sich in den Gesellschaften des Warschauer Paktes auf die eine oder andere Weise überall herausgebildet hat: Größere Leistungsfähigkeit ist dringend geboten, aber nur erreichbar, wenn die Stimme der Menschen nicht immer weiter unterdrückt bleibt, wenn ihre Interessen beachtet, Anreize für ihre Leistungen geschaffen, ihre Partizipation gefördert, ihre Rechte besser geachtet werden. Sollen wir dagegen sein?

Und wer trägt das Risiko, falls diese Gesellschaften ihr Ziel verfehlen? Der Westen? Oder der Osten, der dann auf seinem alten und leistungsschwachen System sitzenbliebe?

Die Reformpolitik, die Gorbatschow eingeleitet hat, hat sich auf einen weiten Weg mit ungewissem Ausgang gemacht. Deshalb müssen wir wachsam sein. Doch ist dies ein Grund für uns, in mißtrauischer Passivität zu verharren? Sind wir damit zufrieden, selbst in Freiheit zu leben? Kann es uns kalt lassen, was aus den Völkern im Warschauer-Pakt-Bereich wird? Sind sie nicht Europäer wie wir, in derselben europäischen Geschichte und Kultur verwurzelt, einer Kultur, die in Straßburg wie in Krakau zu Hause ist, die von Salamanca über Prag bis Kiew reicht, die ohne Ionesco und Kafka, ohne Flaubert und Dostojewski, ohne Siegfried Lenz und Christa Wolf nicht zu verstehen ist? Menschen mit denselben Aspirationen wie wir? Sind wir, die wir die politische Freiheit haben, nicht verantwortlich dafür, welchen gewissenhaften Gebrauch wir davon für andere Menschen machen, die sich danach sehnen?

Wir werden, ich wiederhole es, den Schutz der eigenen Freiheit bei uns nicht durch die Hoffnung auf eine unsichere Systemänderung drüben ersetzen. Aber es ist unsere Pflicht als freie Völker, uns am Versuch zu einer systemöffnenden Kooperation aktiv zu beteiligen. Nur so gibt es eine Chance, die Ziele der Schlußakte von Helsinki mit Leben zu erfüllen, Freizügigkeit für Menschen, Ideen und Information zu fördern, einer humanen Friedensordnung in Europa näherzukommen. Das sind keine spezifisch deutschen Maximen im Hinblick auf die Teilung der Nation. Das sind Grundsätze der freien Welt, die wir zu bezeugen und zu bewähren haben, wo immer sich eine Chance dazu bietet.


VII.

Im nächsten Jahr wird die Welt des zweihundertsten Jahrestages der Französischen Revolution gedenken. Innerhalb und außerhalb Frankreichs werden die Deutungen dieses weltgeschichtlichen Ereignisses auseinandergehen. Aber die Welt lebt in der Konsequenz der Ideale, die zum Jahre 1789 geführt haben. Das Zeitalter der politischen Aufklärung und ihrer revolutionären Folgen wurden zur Grundlage für die moderne europäische Entwicklung. Menschenrecht und Verfassungsstaat, ich nenne sie noch einmal, wurden der Ausdruck der europäischen Identität, um die es uns geht. Viele Menschen in Europa und darüber hinaus warten noch heute darauf, daß diese Ideale zu ihrer politischen und persönlichen Lebenspraxis werden. Sie, Herr Präsident, haben vor einem Monat bei den Vereinten Nationen auf die großen Anstrengungen verwiesen, die wir noch zu leisten haben. Sie sagten: "Il reste deux siècles après la Déclaration des droits de l'homme et du citoyen bien des Bastilles à prendre, des libertés à conquérir, des droits à garantir."

Der Weg ist hart und weit. Entscheidend aber ist die Perspektive. Wenn wir sie mit kühlem Kopf und mit dem Herzen zäh verfolgen, wenn Frankreich und Deutschland ihr gemeinsam dienen, dann können wir unserer Verantwortung gerecht werden.

François Mitterrand und Helmut Kohl widmen ihre Kräfte dieser Arbeit, sie dienen diesem Ziel, sie tun es gemeinsam. Dafür gebührt ihnen der Karlspreis. Dazu gilbt ihnen der Glückwunsch aus beiden befreundeten Völkern, den Franzosen und den Deutschen, und – wie ich zuversichtlich glaube - aus ganz Europa.