Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Verehrte Festgäste!

Der europäische Gedanke scheint in seinen Fundamenten erschüttert.

Glaubte man nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes, einem goldenen Zeitalter des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands auf diesem Kontinent entgegenzugehen, macht heute das Wort von der Krise die Runde.

Europas Verunsicherung erleben wir tagtäglich, sei es in Hoyerswerda oder Rostock, in Srbrenica, Ulster oder Paris, in Georgien, auf Korsika oder im Baskenland.

Festgefügte Weltbilder und mit ihnen Feindbilder, an die wir uns gewöhnt hatten, die uns, wenn auch angstbesetzte Sicherheit vermittelten, geraten ins Wanken. In atemberaubender Konsequenz wandeln sich ganze Systeme oder fallen auseinander, nur selten ohne Gewalt.

Der Glaube an den immerwährenden Fortschritt, daran, daß alles machbar, beherrschbar sei, auch er ist ins Wanken geraten.

Wesentlich wird die europäische Verunsicherung durch die Perspektivlosigkeit der Politik verursacht. Die Menschen brauchen Ziele, Werte, Visionen, an die sie glauben, für die es sich lohnt zu arbeiten, die ihrem Leben einen Sinn geben. Die Sinnkrise, in der wir alle stecken, sei es uns bewußt oder nur dumpf gefühlt, erzeugt Lethargie, Mutlosigkeit, Frustration, die ganz schnell - insbesondere bei unserer Jugend - in Gewalt umschlagen können.

Schon in den Sprüchen Salomos vor ca. 3000 Jahren heißt es: ,, Wo keine Vision ist, wird das Volk wild und wüst." Europa braucht Hoffnung und Ermutigung. Es braucht überzeugende Visionen und überzeugende Visionäre.

Wir begrüßen den diesjährigen Träger des Internationalen Karlspreises zu Aachen, den spanischen Ministerpräsidenten Felipe González.

Muy estimado Senor Presidente del Gobierno, nosotros, los cuidadanos de Aquisgran, estamos muy contentos desaludarle aqui y esperamos que se encuentre muy bien en la ciudad de Caromagno.

Mit ihm begrüße ich die Karlspreisträger früherer Jahre:
-den Karlspreisträger 1951, den vormaligen Rektor des Europa-Kollegs, Herrn Prof. Dr. Hendrik Brugmans
-für den Karlspreisträger 1969, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, den damaligen Vizepräsidenten Dr. Fritz Hellwig und Kommissar Dr. Hans von der Groeben
-den Karlspreisträger 1986, seine Königliche Hoheit Großherzog Jean von Luxemburg
-den Karlspreisträger 1990, den ehemaligen Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Ungarn, Herrn Dr. Gyula Horn
-den Karlspreisträger 1991, den vormaligen Präsidenten der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik und heutigen Präsidenten der Tschechischen Republik, Herrn Václav Havel
-den Karlspreisträger 1992, den Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Herrn Jacques Delors.
Eine besondere Freude bereitet uns mit seiner Anwesenheit der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Herr Dr. Richard von Weizsäcker.

Herzlich grüße ich in unserer Mitte den Bundeskanzler der Republik Österreich, Herrn Dr. Franz Vranitzky, dem ich an dieser Stelle schon danken möchte für die große Ehre, die er uns mit der Laudatio auf den diesjährigen Preisträger erweist.

Wir grüßen mit besonderer Hochachtung in unserer Mitte den Ministerpräsidenten des Königreichs der Niederlande, Herrn Dr. Ruud Lubbers, den Vorsitzenden der Regierung der Tschechischen Republik, Herrn Václav Klaus, die Vorsitzende des Ministerrates der Republik Polen, Frau Hanna Suchocka, und den Außenminister des Königreichs Spanien, Herrn Javier
Solana.

Ich begrüße sehr gerne die Botschafter der Länder: Belgien, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Indien, Italien, Kanada, Luxemburg, Malta, Mexiko, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Schweiz, Slowakei, Spanien, Tschechien, Ungarn, die Vereinigten Staaten von Amerika und Zypern sowie den deutschen Botschafter in Spanien und den ständigen Vertreter der Bundesrepublik bei der Europäischen Gemeinschaft.

Wir freuen uns herzlich über die Anwesenheit der Bundesministerin für Raumordnung. Bauwesen und Städtebau, Frau Dr. Irmgard Schwaetzer.

Herzlich begrüße ich den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Dr. Johannes Rau, die Präsidentin des Nordrhein-Westfälischen Landtages, Frau Ingeborg Friebe, die Landesministerinnen Anke Brunn und Ilse Brusis sowie den Minister für besondere Aufgaben und Europabeauftragten der Landesregierung, Herrn Wolfgang Clement.

Grüßen möchte ich auch die Generalsekretärin des Europarates, Frau Catherine Lalumière, den Generalsekretär des Europäischen Parlaments, Herrn Enrico Vinci, den Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Herrn Miguel Angel Martinez, sowie den Präsidenten des Europäischen Rechnungshofes, Herrn André Middelhoek.

Ferner grüße ich den Präsidenten der Generalität von Katalonien, Herrn Jordi Pujol I Soley, den Ministerpräsidenten der Regierung der autonomen Region Andalusien, Herrn Manuel Chaves, und den Ministerpräsidenten von La Mancha und Katalonien, Herrn José Bono Martinez.

Mit besonderer Freude begrüßen wir auch den Nobelpreisträger für Literatur, Herrn Gabriel Garcia Marquez, und den Vorsitzenden des Internationalen Olympischen Komitees, Herrn Juan Antonio Samaranch.

Darüber hinaus grüße ich die Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften, insbesondere aus unserer spanischen Partnerstadt Toledo, Seine Eminenz, Herrn Kardinal Marcello Martin González sowie viele weitere, namhafte Persönlichkeiten, die uns durch ihre Anwesenheit ehren. Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal oder an Radio und Fernsehen teilnehmen, gilt der aufrichtige Gruß der Stadt Aachen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die Vielfalt Europas provoziert stets mehr komplexe Fragen als sie schlüssige Antworten bereithält. Unsere Ratlosigkeit wird derzeit durch den Umstand vergrößert, daß der Kontinent von einer tiefgreifenden geistigen und ökonomischen Krise erfaßt ist. Während der Kommunismus beharrlich die Entfaltung freien Gedankenaustauschs und die Kreativität der Menschen unterdrückte, entwickelte sich im Westen ein Übermaß an Egoismus.

Ein Zugehörigkeitsbewußtsein der Bürger zu Europa ist nicht festzustellen. Eine Standortbestimmung über Sinn und Zweck der EG ist ebenfalls im Bewußtsein der Menschen nicht verankert.

Spätestens seit der Konferenz von Maastricht hat sich diese Grundstimmung deutlich gezeigt. Ernüchterung hat sich breitgemacht, manchmal scheint Europa gar erschöpft zu sein.

Je diffuser und kontroverser die gemeinsame europäische Zukunft vielen Menschen erscheint, desto mehr werden erneut die Nationalismen gegen Europa ins Spiel gebracht. Sie verheißen Orientierungen, schaffen vermeintliche Sicherheiten und scheinen Geborgenheit zu bieten.

In den Mitgliedsstaaten der EG wächst die Neigung zu Einzelgängen, zu hartem Konkurrenzkampf.

Einig ist man sich allenfalls in der konzentrierten Interessenwahrnehmung gegenüber den Nachbarn des früheren Ostblocks. Assoziationsversprechen von vorgestern sind auf übermorgen vertagt. Der ökonomische Graben zwischen Ost und West wird - beispielsweise durch den mäßigen Kapitaltransfer - mehr und mehr vertieft.

Die östlichen Gesellschaften durchlaufen bereits jetzt eine dramatische Armutsphase. Die Reintegration der mittel- und osteuropäischen Länder in einen gesamteuropäischen Zusammenhang, die Persönlichkeiten wie Václav Havel und Gyula Horn beharrlich fordern, bleibt ungelöst.

Der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes hat an das große Gemälde von Max Ernst "Europa nach dem Regen" erinnert. Es zeigte - kurz nach dem Zweiten Weltkrieg - das Portrait eines darniederliegenden Kontinents am Rande des Todes, ein Europa, das zum Opfer seiner Blindheit geworden war.

So hoffnungslos - meine Damen und Herren - ist das Bild vom heutigen Europa nicht.

Ich meine, daß trotz aller Probleme das Niederreißen des Eisernen Vorhanges ein geschichtlich einmaliger Glücksfall ist, der unserer Generation widerfuhr. Wir müssen nur diesen historischen Prozeß produktiv gestalten.

Wir müssen in dieser Lage Antworten finden.

Europa muß sich seinen Bürgern neu erklären. Es muß seine Werte offenlegen, alte und neue, vor allem auch solche, die für junge Mitbürger attraktiv sind.

Die Gemeinschaft muß den Zusammenschluß mit den mittel- und osteuropäischen Ländern energischer vorantreiben und der Westen dabei Wohlstand abgeben, um den Frieden auf dem Kontinent zu sichern. Die Ausdehnung des westeuropäischen Wachstumsmodells darf nicht die einzig denkbare Antwort und gesellschaftliche Spaltung nicht der Preis für den Übergang zur Marktwirtschaft sein.

Es gilt, wieder und wieder deutlich zu machen, daß Austausch und Weltoffenheit nicht gefährlich, sondern nützlich und auch schön sind.

Nutzen wir endlich die Chance zum Aufbau einer Gemeinschaft in ihrer kontinentalen Größe - bei Achtung der Vielfalt der Völker und Regionen, bei Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und unter Beteiligung seiner Bürger.

Nehmen wir das "Ja" der Dänen von vorgestern trotz der wesentlichen Ausklammerungen als positives Zeichen für die Zukunft der Zwölf.

Seien wir in der Gemeinschaft solidarisch gegenüber den benachteiligten oder zurückgebliebenen Regionen! Geben wir den Völkern in Mittel- und Osteuropa bald die Sicherheit, Teil des Ganzen zu sein. Und treffen wir energisch die Boykott- und Sanktionsmaßnahmen gegenüber den Aggressoren auf dem Balkan, um ihnen das Handwerk zu legen und den Menschen Freiheit und Sicherheit zu bringen.

Geben wir Antworten auf die Fragen der Zweifler und Ängstlichen. Antworten, die den Frieden als eine der wichtigsten Voraussetzungen menschlicher Existenz darstellen.

Jacques Delors hat uns im letzten Jahr daran erinnert, daß Europa älter ist als seine Staaten und die heutige Gemeinschaft zunächst nur die Konsequenz der leidvollen Geschichte. Er hat uns aufgefordert, nunmehr dieses Europa gegenüber den Herausforderungen der Gegenwart zu rechtfertigen.

Erkennen wir, daß es keine Alternative zur Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit gibt.

Erkennen wir, daß nationale und europäische Identität keine Gegensätze, sondern Ergänzungen sind.

Erkennen wir, daß die Vertiefung der Gemeinschaft der Zwölf die gleichzeitige Erweiterung nicht ausschließen darf.

Das Projekt Gesamteuropa kann und muß in den nächsten Jahren entscheidend gefördert werden. Wenn es fehlschlägt, wird es für immer fehlgeschlagen sein.

Spaniens Übergang von der Diktatur zur Demokratie, von der isolierten Situation auf der Iberischen Halbinsel in die Europäische Gemeinschaft dauerte mehr als ein Jahrzehnt. Es war ein Weg, der Hindernisse hatte und Rückschläge aufwies.

Auch der Weg nach Europa braucht Zeit, braucht Mut, Beharrlichkeit, vor allem aber Mitmenschen, die sich für die Einheit in der Gemeinschaft engagieren.

Die Vision eines geeinten Europas ist das Leitziel unseres diesjährigen Karlspreisträgers.

Felipe González führte Spanien in die Gemeinschaft. Unter ihm wurde sein Land Mitglied der westeuropäischen Union; er verknüpfte sein politisches Schicksal an den Verbleib in der NATO. Es war auch seine Regierung, die den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnete und damit ein Signal für viele andere Europäer setzte.

Felipe González leitete den Dialog zwischen der EG und den Lateinamerikanischen Staaten ein, schaffte Kontakte zu den Mittelmeeranrainern und ist Urheber der Initiative zur Parlamentarischen Versammlung der KSZE.

González, meine Damen und Herren, war stets ein Verbündeter der Kräfte, die für die volle politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Einigung Europas gestritten haben. Er war einer der Motoren für die Verträge von Maastricht, in Edinburgh schließlich der Lenker, der die Kritik an den Maastrichter Ergebnissen unter tatkräftigem Einsatz in ein neues Fünf-Jahres-Programm ummünzte.

Bei der Trauerfeier für den verstorbenen großen Europäer Willy Brandt hat Felipe González auch sein Bekenntnis zum Europa in beeindruckender Weise formuliert:
-gegen den gefährlichen Nationalismus zu kämpfen,
-Nationalität und Heimat aber anzunehmen;
-aus der Geschichte zu lernen und eine bessere Zusammenarbeit sowie mehr Solidarität in Europa zu verwirklichen.
Dank gilt Felipe González, der uns immer wieder ermutigt, dieses Werk zu vollenden.
Herr Ministerpräsident, ich gratuliere Ihnen zur Verleihung des diesjährigen Karlspreises.