Meine Damen und Herren,
die jährliche Auswahl eines Karlspreisträgers ist keine leichte Aufgabe, gilt es doch, eine Persönlichkeit zu nominieren, deren Wirken und Werk weit über den tagespolitischen Horizont, den tagespolitischen Erfolg hinaus einen bestimmenden Beitrag zum Aufbau Europas darstellt. Ich habe mich sehr darüber gefreut, daß die Wahl auf Herrn Ministerpräsidenten Felipe González gefallen ist: nicht nur, weil er ein erfahrener und erfolgreicher Regierungschef und seit vielen Jahren mein persönlicher Freund, sondern weil er ein würdiger Empfänger dieses bedeutenden Preises ist, der diesen für sein unverrückbares europäisches Engagement wahrhaft verdient hat. Ich habe daher mit großer Freude die Einladung angenommen, heute die Laudatio für Felipe González zu halten.
Daß mir die Ehre zuteil wurde, den Preisträger einzuführen, hängt sicher nur zum kleineren Teil mit meinem politischen Naheverhältnis und der angesprochenen Freundschaft zu Felipe González zusammen. Ich halte es nicht für vermessen zu sagen: Es ist auch ein wichtiges europapolitisches Zeichen, einem Vertreter Österreichs an dieser Stelle das Wort zu geben; steht doch mein Land zusammen mit Schweden, Finnland und Norwegen mitten in den Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft bzw. zur Europäischen Union. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich erklären: Österreich wird der Union ohne Wenn und Aber beitreten sowie aktiv und solidarisch an der dynamischen Weiterentwicklung des "Projekts Europa" mitarbeiten.
Österreich tut dies, weil es sich zu dem von den großen Europäern - und ich denke hier ganz besonders an den Karlspreisträger des Vorjahres, Jacques Delors - entworfenen Modell der Europäischen Integration bekennt und als kleines, offenes und modernes Land derselben Gemeinschaft von Idealen und Werten verpflichtet ist.
Der große österreichische Dichter Franz Grillparzer hat im vergangenen Jahrhundert in geradezu prophetischer Weise den Weg unseres Kontinents in die Katastrophe des Faschismus vorgezeichnet, als er von einer Entwicklung "von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität" warnte. Die Europäische Union ist die einzige Versicherung gegen die Wiederholung der Geschichte; und die europäische Ohnmacht gegenüber dem menschenverachtenden Krieg in Bosnien muß uns allen als Mahnung dienen.
Die Geschichte der Stadt Aachen, die von Karl dem Großen, dem Namensgeber des heute zu verleihenden Preises, zu einem Zentrum des geistigen Lebens Europas gemacht wurde - sie erinnert uns daran, daß die Vision eines geeinten, friedlichen Europa weit in die Jahrhunderte zurückreicht. Karl der Große, Charlemagne, Carlomagno, war ein Herrscher, den kein nachfolgender Staat, keine Nation ausschließlich für sich reklamieren kann. Viel mehr war das karolingische Reich die Vorwegnahme eines zusammengehörenden Kerneuropas. Eines Kerneuropas, das bereits damals in seine Randzonen auszustrahlen begann: in das bedrängte Spanien ebenso wie in das im Entstehen begriffene Österreich.
Heute stehen wir kurz davor, diese - wie ich es nennen würde – "Rohskizze" nach beinahe 1200 Jahren in der Gestalt der Europäischen Union friedlich und dauerhaft zu verwirklichen, denn es gibt eine klare politische Perspektive, daß die Union in einer von den heute Lebenden zu begreifenden Zukunft den gesamten Kontinent umfassen wird.
Angesichts der großen Verdienste, die sich Felipe González um diesen Einigungsprozeß erworben hat, liegt der Grundtenor für eine Würdigung seiner Person auf der Hand. Und dennoch gibt es einen guten Grund, zu zögern. Liegt es doch im Wesen einer Laudatio, ein weitgehend abgeschlossenes Ganzes zu betrachten: ich bin aber davon überzeugt, daß Felipe González noch viele weitere Jahre das politische Geschehen in Spanien und Spaniens Mitwirken in Europa bestimmend prägen wird. Mit diesem Vorbehalt, diesem Hinweis auf die Vorläufigkeit dessen, was es heute zu würdigen gilt, möchte ich auf einige der mir als Politiker wesentlich erscheinenden Etappen und Ereignisse auf dem Weg des jungen, antifrankistischen Rechtsanwalts zum regierungserfahrenen Staatsmann europäischen Formats zu sprechen kommen.
Nach den Wirren des 19. Jahrhunderts und dem blutigen Bürgerkrieg, der der langen und düsteren Periode der Diktatur vorausging, steht Spanien heute dort, wo es in Europa und in der Welt seinen Platz hat. Eine Würdigung Felipe González muß genau bei dem Beitrag ansetzen, den er zu dieser Wiederverankerung Spaniens in Europa geleistet hat. Als er die Regierungsverantwortung übernahm, stand Spanien mitten in den Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Gemeinschaft. Er hat diese für sein Land erfolgreich zu Ende geführt und seither für Spanien die Rolle in der westlichen Welt erkämpft und verteidigt, die ihm zukommt: die eines demokratischen und prosperierenden Staats, der nach Jahrzehnten der Introvertiertheit seine geographische Randlage in Europa zu überwinden und ins Zentrum des kontinentalen Geschehens zu rücken wußte. Und diese europäische Standortbestimmung Spaniens trägt mehr als alles andere die Handschrift Felipe González'.
Es wird von kaum jemand bestritten, daß Spanien bei seinem EG-Beitritt zahlreiche Startnachteile zu überwinden hatte. Es hat allerdings dann im zurückliegenden Jahrzehnt einen rasanten, ja beispielhaften Nachhol- und Aufholprozeß vollzogen. Dieser Prozeß läßt es heute in erheblich größerem Ausmaß am europäischen Wohlstand teilhaben, als dies früher je der Fall war.
Mit dem Jahr 1492 setzen wir den Beginn der Neuzeit an. Es war das Jahr der Entdeckung Amerikas. Die Bedeutung der spanischen Flagge bei dieser Entdeckung ist bekannt.
1977 ist in Friedrich Heers "Europa Unser" zu lesen: ,,Die Entdeckung Europas hat begonnen. Das Ende des europäischen Kolonialismus und Imperialismus, aber auch der heute schon freiwillige Verzicht auf Bekehrung zu europäischer Bekleidung, zu europäischem Christentum und europäischer Demokratie ermöglichen es den um Selbstfindung und Selbstverständnis ringenden Völkern in anderen Kontinenten, den tausendjährigen Lebensprozeß Europa erstmalig wahrzunehmen und die gefährliche Identifizierung Europas mit einigen aggressiven und massiven Erscheinungsformen einer weißen Zivilisation aufzugeben."
Diese Neuentdeckung sollte auch von der jungen Generation in Europa selbst als große Herausforderung angenommen werden. Von den Spaniern wurde sie angenommen, und ihr Modernisierungsschub war von der unzweifelhaft europäischen Überzeugung Felipe González getragen - der Überzeugung, daß Spanien in Europa nur bestehen kann, wenn es auch im europäischen und weltweiten Wettbewerb zu bestehen weiß. In weiten Bereichen Europas ist eine bloß nationale Politik nicht mehr möglich. Politik ist heute zu einem täglichen Kampf, einem Bemühen um die Europareife geworden; sei es von Industriesektoren, sei es von Bildungssystemen, sei es in Besteuerungsfragen, sei es bei Sozialprogrammen. Diesem Wettbewerb ist Spanien nie ausgewichen, auch dort nicht, wo das Ausweichen für den Regierungschef González vielleicht der innenpolitisch leichtere Weg gewesen wäre.
Es wäre jedoch falsch, in der spanischen Politik der letzten Jahre nur ein Heranführen dies Landes an seine Partner in der Europäischen Gemeinschaft sehen zu wollen. Spanien hat vielmehr selbst eine ganz wesentliche, gestaltende Rolle gespielt, eigene Akzente gesetzt und wichtige eigene Werte und Vorstellungen in den europäischen Gestaltungsprozeß, wie insbesondere auch in den Vertrag über die Europäische Union eingebracht.
Die Europäische Gemeinschaft hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, binnen weniger Jahre die Phase der politischen Union sowie der vollen ökonomischen Integration, die mit dem Schlagwort Wirtschafts- und Währungsunion bezeichnet wird, zu erreichen. Eine Zielvorgabe, die für jeden einzelnen Mitgliedsstaat eine politische und makroökonomische Herausforderung in einer bisher noch nie gekannten Dimension darstellt. Diese Herausforderung ist auch eine für die Führungsqualität der Politiker dieses Kontinents. Wir sind uns alle der Tatsache bewußt, daß der Zeithorizont für die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion ganz wesentlich vom Konjunkturverlauf der nächsten Jahre und der allfälligen Neudefinition der für ihr Inkrafttreten maßgebenden Kriterien abhängt.
Wichtig erscheint mir jedoch, daß dieser Herausforderung von den europäischen Regierungen positiv und offensiv und, wenn erforderlich, auch mit dem Mut zu unkonventionellen Ideen begegnet wird. Die Ausgangslage ist von Land zu Land unterschiedlich - Spanien ist jedoch sicherlich ein sehr positives Beispiel dafür, wie eine Regierung, wie ein Land grundsätzlich bereit ist, sich dieser Herausforderung zu stellen. Das Konvergenzprogramm der Regierung González ist ein Beispiel für mutige europäische Politik, für eine Politik, die den Blick über den tagespolitischen Horizont hinauszuheben vermag.
Genau hier liegt der Schlüssel zum Felipe González' Erfolg als spanischer und als europäischer Staatsmann: Er ist nicht auf Glaubenssätze fixiert - seien es nun alte oder neue. Dem Augenmaß und dem Realitätssinn gibt er Bedeutung. Mit der Kraft seiner europäischen Vision und dem Glauben an eine gerechte Gesellschaft definiert er die Zukunft. Mit dieser seltenen Synthese von Pragmatismus und Vision gibt er den Europäern etwas, das gerade heute dringender denn je benötigt wird: Das Vertrauen in die Machbarkeit der Politik, in das überlegte, gestaltende Verändern unserer wirtschaftlichen und sozialen Strukturen.
Und das Bestehen von Felipe González auf dem Prinzip der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion Europas ist für mich die logische Fortsetzung seiner an Solidarität und Interessensausgleich orientierten innerstaatlichen Politik auf europäischer Ebene. So wie eine Gesellschaft nur prosperieren kann, wenn alle an ihren Errungenschaften teilhaben, so kann es auch der Europäischen Union nur gelingen, wenn einem "Zwei-Drittel-Europa" eine deutliche Absage erteilt wird.
Das neue Europa darf sich nicht in regionaler Selbstgefälligkeit verfangen, und Felipe González ist einer der hervorragendsten Garanten dafür, daß die Gemeinschaft nicht vergißt, über ihre eigenen Grenzen hinauszublicken.
So ist es sein Verdienst, immer wieder den Brückenschlag zwischen Europa und Lateinamerika vorangetrieben zu haben; und es ist sein Verdienst, die wichtige Rolle des Maghreb für die Stabilität unseres Kontinents im politischen Bewußtsein der Europäer verankert zu haben.
Maghreb sei als Stichwort für die Wanderbewegungen unserer Zeit verwendet. Hans Magnus Enzensberger nimmt in diesem Zusammenhang die Medien aufs Korn und zeiht sie, in Bezug auf die Völkerwanderungen eine eigentümliche Angstlust mit apokalyptischen Bildern zu entwerfen. Dies, so meint er, sei antizipierende Panik und führe zu nichts anderem als zu einer Politik des "stop and go" zwischen schüchternen Reparatureingriffen und Blockaden des Denkens und Handelns. Ich schließe mich dieser Diagnose nicht an, sehe aber ein, daß wir gerade auch auf diesem Gebiet aus der Warte der europäischen Ganzheit gefordert sind.
Auch Spaniens Rolle beim Zustandekommen der Nahost-Friedenskonferenz zeigt, daß das Spanien Felipe González' ein Land ist, das seine europäische und globale Verantwortung ernst nimmt; die Wahl Madrids als Ort des ersten Zusammentretens der Konferenz war ein deutlicher Beweis für das hohe Ansehen, das der spanischen Regierung in dieser Frage entgegengebracht wird.
Diesem offenen Blick, diesem aktiven Engagement von Ministerpräsident González messe ich persönlich enorm viel Bedeutung zu, sehe ich doch aufgrund der geographischen und historischen Position meines eigenen Landes die größte Herausforderung an Europa darin, die neuen Demokratien im Osten des Kontinents am Integrationsprozeß teilhaben zu lassen und gleichzeitig den hohen Erwartungen seiner Partner auf den gegenüberliegenden Seiten des Atlantik und des Mittelmeers gerecht zu werden.
Vor einem Monat hätte ich die Freude und das Vergnügen, Felipe González als offiziellen Besucher in Wien zu empfangen. Wir haben lange und ausführlich über das Thema gesprochen, das uns Österreicher heute am meisten beschäftigt, nämlich die europäische Integration. Nach diesem Gespräch besteht für mich kein Zweifel daran, daß Spanien der Erweiterung sehr positiv gegenübersteht, daß wir in Spanien einen Befürworter einer zügigen Erweiterung der Gemeinschaft und der zukünftigen Europäischen Union haben. Auch hier geht es um eine Grundsatzfrage der politischen Gestaltung Europas, um ein Thema, dessen Bewältigung über Erfolg und Mißerfolg der Gemeinschaft in den nächsten Jahren entscheiden wird. Ich glaube mit großer Zuversicht darauf vertrauen zu dürfen, daß Ministerpräsident Felipe González immer dort, wo es in diesem Prozeß eines politischen Impulses bedürfen wird, diesen zu geben bereit ist.
Vor Ministerpräsident Felipe González wurden bereits zwei andere Spanier mit dem Karlspreis der Stadt Aachen ausgezeichnet, Salvador de Madariaga und König Juan Carlos I.. Ich glaube, daß jeder dieser spanischen Preisträger als ein hervorragender Repräsentant für eine bestimmte Periode in der Zeitgeschichte Spaniens bezeichnet werden kann. Salvador de Madariaga repräsentiert die von den Wirrnissen dieses Jahrhunderts ungebrochene Kontinuität und Größe der kulturellen Sendung Spaniens in Europa. König Juan Carlos I. personifiziert die erfolgreiche Bewältigung des Übergangs vom Frankismus zur pluralistischen Demokratie, vom autoritären Staatswesen zu einer Monarchie, die auf breiter demokratischer Akzeptanz beruht. Mit Ministerpräsident Felipe González wird der Staatsmann Spaniens mit dem Karlspreis ausgezeichnet, der für sein Land eine klare, zukunftsweisende europapolitische Perspektive entwickelt und dieses endgültig im Europa von heute und von morgen verankert hat. Felipe González, und damit Spanien, wird auf diesem Weg, dessen bin ich mir sicher, mit Entschlossenheit fortschreiten. Der Erfolg Spaniens wird auch der Europas, wird unser aller Erfolg sein.