Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Dankbar und tief bewegt nehme ich heute in diesem ehrwürdigen Hause den mir verliehenen Preis entgegen, vernehme ich Ihre so freundlichen Worte der Anerkennung und des Lobes. Für mich gelten diese Worte - gestatten Sie mir die Bemerkung - weniger meiner eigenen Person als vielmehr dem großen Engagement einer Generation, die in meinem Land für die Abschaffung der Diktatur, für die Beendigung des Krieges, die Festigung der schwer bedrohten Demokratie, den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt gekämpft und in Europa einen natürlichen und sinnvollen Rahmen für die Verwirklichung ihrer Zielvorstellungen gesehen hat.
Europa ist ein alter Kontinent und reich an Erfahrungen. In der schwierigen und zugleich bitteren Zeit, in der wir heute leben, gibt uns Aachen, jene Stadt, in der vor mehr als tausend Jahren eine neue Kultur ihren Anfang nahm, die Hoffnung und Neubeginn bedeutete, neuen Mut und neues Vertrauen. Damals ging eine Welt zu Ende, wurde ein Traum zunichte - die griechisch-römische Kultur hatte sich offensichtlich selbst zerstört. Und doch regten sich schon die Kräfte des Neubeginns, waren bereit zum Durchbruch. "Alle Völker, die die Synthese zwischen germanischer Dynamik und römisch-katholischer Mystik verstehen und akzeptieren können, sind europäisch. Diese Synthese ist gleichbedeutend mit europäischem Gedankengut, europäischer Kultur; wo Europa zu Ende ist, da ist auch sie zu Ende. Das Reich Karls des Großen ist Europa". Diese Definition stammt von Saint-Simon, und es läßt sich wohl kaum eine bessere finden.
Schon anderen wurde vor mir die hohe Ehre dieses Preises zuteil. Es waren viele berühmte Persönlichkeiten, deren Namen ich nicht alle nennen will. Erinnern möchte ich jedoch an meine beiden italienischen Vorgänger, De Gasperi und Segni, und an die Persönlichkeiten, die in den letzten Jahren ausgezeichnet wurden - Bundespräsident Walter Scheel, Präsident Karamanlis, der Griechenland die Demokratie und Europa Griechenland zurückgegeben hat, und Präsident Tindemans, der mir heute die Ehre erwiesen hat, mich Ihnen vorzustellen.
Jedesmal, wenn man sich über den Entwicklungsstand des europäischen Aufbauwerkes Gedanken macht, hat man zunächst den Eindruck, an einem Scheideweg angelangt zu sein, vor einer Entscheidung zu stehen, die jedoch - in meinen Augen - keine ist. Sollen wir uns über die schleppende Entwicklung, die Verzögerungen, den lähmenden Bürokratismus, über die Führungsschwäche, über das Fehlen einer politischen Vision und - mehr noch - eines großen Ideals beklagen? Oder sollen wir Trost und Mut schöpfen aus der Tatsache, daß das europäische Aufbauwerk nach nunmehr zwanzig Jahren und trotz zahlreicher Krisen noch immer fest zusammenhält, daß der Einigungsprozeß trotz noch so starker nationaler Egoismen und Widerstände nicht mehr umkehrbar ist, daß das Ziel der Europäischen Union und das der Stärkung und Entwicklung immer zeitgemäßerer Formen unserer Demokratie zusehends deckungsgleich werden, daß die Europäische Gemeinschaft auf der Weltbühne immer mehr an Gewicht gewonnen hat, daß sie Hoffnungen wecken konnte, die ihrer Zeit voraus sind, und daß sie einen - noch nicht voll genutzten - Handlungsspielraum geschaffen hat, durch den unsere Völker erneut zum Angelpunkt für Frieden und Fortschritt werden können?
Meiner Ansicht nach müssen wir uns sowohl vor übertriebenem Pessimismus als auch vor leichtfertigem Optimismus hüten .Es ist an der zeit, die Lage realistisch zu beurteilen, von bereits Geleistetem auszugehen, es zu ergänzen, zu verbessern und begangene Fehler zu korrigieren.
Europa befindet sich heute in einem Übergangsstadium. Es war gewissermaßen zu erwarten, daß die politische Kreativität der Völker Europas, die über so lange Zeit hinweg durch einen sinnlosen Kampf um die Vorherrschaft in Anspruch genommen wurde (man denke nur an die Geschichte der beiden letzten Jahrhunderte), mit jener Aussöhnung auf unserem Kontinent, die nach wie vor eine der größten Leistungen unserer Zeit ist und bleibt, neue Ziele und neue Tätigkeitsbereiche finden würde und sie zunächst mit den Verträgen von Rom und Paris in der Wirtschaft gefunden hat.
Gewiß wird hier die Unzulänglichkeit der bisher verwirklichten gemeinsamen Politiken spürbar, und es bleibt auch weiterhin viel zu tun, um diesen Politiken mehr sozialen Inhalt zu geben, ihre ausgleichende Wirkung zu verstärken und sie nach modernen, dynamischen und offenen Vorstellungen zu gestalten. Was wir aber erreicht haben, sind und bleiben große Errungenschaften. Wir haben einen großen, freien und sicheren Binnenmarkt, der Währungs- und Energiekrisen standgehalten hat und Schutz bietet gegen protektionistische und autarkistische Tendenzen, die Europa noch vor vierzig Jahren an den Rand der Katastrophe getrieben haben. Wir haben eine gemeinsame Agrarpolitik, die jetzt endlich gerechter gestaltet wird, indem die Bedürfnisse der Mittelmeerländer stärker berücksichtigt werden. Und wir haben die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Mag dieser Komplex von Gemeinschaftspolitiken auch noch unvollständig sein, so bildet er doch eine tragfähige Grundlage. Und so beginnt man jetzt auch, das Energieproblem auf europäischer Ebene anzugehen, um - in gemeinsamem Einvernehmen - den Ölverbrauch einzuschränken und um die nationalen Energiepolitiken zu studieren und möglichst zu koordinieren und zu harmonisieren.
Außerdem erschöpfte sich die europäische Geschichte auch im wirtschaftlichen Bereich nicht in den Verträgen. Denken wir nur an die 1969 beschlossenen Wirtschafts- und Währungsunion, die zehn Jahre lang nicht von der Stelle kam und deren erstes greifbares Ergebnis heute das Europäische Währungssystem ist. Dabei handelt es sich nicht - wie manche glauben - um eine rein technische Vereinbarung über das Floaten der Währungen. Es ist vielmehr der erste Schritt auf dem Wege zur Schaffung jener gemeinsamen Währung, von der wir hoffen, daß sie - wie einst in den Städten des antiken Griechenlands - Instrument und Symbol eines gemeinsamen Schicksals sein wird. Auch in der Regionalpolitik - und ihr gilt als Sohn einer der benachteiligten Regionen Europas mein besonderes Interesse - machen wir allmählich Fortschritte, insbesondere insoweit, als die Beihilfe, die die Gemeinschaft für Projekte zugunsten der benachteiligten Regionen gewährt, erhöht wurde.
Die Sozialpolitik fordert heute von allen einen immer stärkeren Einsatz. Was die auswärtigen Beziehungen anbelangt, so hat die Gemeinschaft mit dem Abkommen von Lomé ein Modell für die Art der Beziehungen geschaffen, wie sie sich nach unseren Vorstellungen zwischen allen Industrieländern und Entwicklungsländern entwickeln sollten.
Mittlerweile ist neben den Vertragsbestimmungen ein völlig neues System mit der Bezeichnung "Politische Zusammenarbeit" entstanden. Es entsprach der europäischen Wirklichkeit und ist die Antwort auf die neuen Probleme, für die die Verträge noch keine Regelung hatten vorsehen können, auch wenn sich ihre Verfasser darüber im klaren waren, daß solche Probleme in Kürze auftreten würden.
Dieses neue System entwickelte sich zunächst im Bereich der Außenpolitik, und die Außenpolitiken der Neun bilden - auch wenn das den wenigsten bekannt ist - mehr und mehr eine Gesamtheit untereinander abgestimmter Haltungen und gemeinsamer Interventionen in den übrigen Teilen der Welt - ein Ansatz für die Definition einer echten europäischen Außenpolitik. Nach nunmehr neunjähriger Erfahrung beschränkt sich die politische Zusammenarbeit jedoch nicht mehr auf die Außenpolitik.
Auch andere Minister und Verantwortliche beginnen, sich zu treffen und zusammenzuarbeiten. So sind die Justizminister, die beschlossen haben, alle sechs Monate zusammenzutreten, dabei, einen "Gemeinsamen Rechtsraum" zu schaffen, in dessen Grenzen die Bekämpfung schwerer Gewaltverbrechen und Rechtshilfe in Zivilsachen erfolgen sollen. Mit der Einführung eines eigenen, exklusiven Rechtssystems für die Neun als bedeutsamem Schritt auf dem Wege zu ihrer Einigung begeben wir uns in einen Bereich, der das Kernstück des modernen Staates darstellt.
Gleichzeitig koordinieren die Innenminister ihre Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung. In diesem Zusammenhang wurde unlängst bekannt, daß die Neuen auf dem Gebiet des Schutzes vor Anschlägen von Terroristen, des Schutzes der zivilen Luftfahrtswege, der Kernanlagen und des Transports von spaltbarem Material (welcher Staat könnte hier noch allein handeln?) sowie im Falle von Bränden und sonstigen Naturkatastrophen zusammenarbeiten. Die Methode der politischen Zusammenarbeit ist sozusagen "ansteckend"; so wurde sie auch von den Erziehungsministern übernommen, und vor einigen Tagen beschäftigten sich die Handelsminister im Rahmen eines Studientages nicht nur mit den technischen Problemen des Güteraustauschs, sondern auch mit dem soziologischen Aspekt der im europäischen Handel tätigen Gruppen und mit ihrer Eingliederung in das Europa der Zukunft.
Es gilt, solche Initiativen immer mehr zu koordinieren, und dies wäre in meinen Augen Aufgabe des Europäischen Rates.
Meines Erachtens dürfte es aber falsch sein, nur die Zusammenarbeit auf offizieller Ebene zu sehen. Tatsächlich ist der alte europäische Kontinent Schauplatz von Treffen und Initiativen in den verschiedensten Bereichen, da viele beginnen, sich zu treffen, miteinander zu reden und gemeinsam ihre Probleme im Hinblick auf gemeinsame Lösungen zu prüfen. Die europäischen Parteien stehen nunmehr ständig miteinander in Verbindung, was auch auf die bevorstehenden Direktwahlen zurückzuführen ist. Die europäischen Gewerkschaften sind sich bewußt, daß sie jede für sich allein von den Ereignissen überholt würden: in der Tat fand diesen Monat die (sogar über den Rahmen der Neuen hinausgehende) Tagung des Europäischen Gewerkschaftsbundes statt.
Das neue Fernmeldesystem über Satelliten, das die Bild- und Tonübertragung in der Welt von morgen gewährleisten soll, wird europäisch sein.
Täglich hört man von neuen Initiativen: "eine sanfte Energie für Europa", schlägt ein Kongreß vor, der sich zum Ziel gesetzt hat, vor den Gefahren der Kernstrahlung zu warnen; das "Europa der Informationen" ist gerade erst entstanden; die Gemeinschaft der europäischen Verlegerverbände tagt in Rom; "die Regionen im neuen Europa" teilen mit, daß die regionalen und lokalen Körperschaften ihren Platz beim politischen Aufbau Europas fordern. Diese Aufzählung könnte endlos fortgesetzt werden. Ich möchte sie jedoch mit dem Hinweis abschließen, daß am 19. April dieses Jahres die Bischöfe Europas eine Botschaft verkündet haben, in der es heißt, daß ein bedeutender Teil der geistigen Führer unserer Völker den Aufbau Europas befürwortet, und diesem auch gleichzeitig die Richtung weisen will. Ein vereinteres Europa müsse in einer wirksameren Solidarität zwischen reich und arm auf unserem Kontinent, wie auch darüber hinaus, zum Ausdruck kommen; das Evangelium fordere uns immer wieder zum Teilen auf ..... Wohin das Auge schaut, sieht es nämlich in Europa plötzlich zahllose neue Initiativen, Annäherungen und gemeinsame Erfahrungen zwischen Individuen und Gruppen entstehen, die, wie wir wohl wissen, Träger von Reichtümern der Menschheit, nämlich von Persönlichkeit, Geschichte und Kultur, sind: und auf das Zusammengehen dieser Reichtümer setzen wir unsere Hoffnung.
Diese Entwicklung ist natürlich in verschiedener Hinsicht ungeordnet oder gar verworren. Aber gerade dieses, wahrscheinlich unvermeidliche Merkmal ist Symbol ihrer Lebendigkeit; die großen Entwicklungen der Menschheitsgeschichte sind nach und nicht vor dem Eintreten in eine Ordnung gebracht und in Regeln gefaßt worden. Und gerade darin, so möchte ich sagen, kann eine der Hauptaufgaben des neuen gewählten Parlaments bestehen. Sie liegt nicht so sehr, wie einige meinen, in dem Bemühen um neue Befugnisse; sondern es sollte sich als gemeinsames Haus verstehen, in dem alle Fakten, alle Elemente, die sich beim Aufbau Europas zusammenfinden, diskutiert, analysiert und auch begrifflich im Sinne ihrer Initiatoren selbst kanalisiert werden im Hinblick auf die Einheit und notwendige Harmonie der Aktion.
Das Parlament, das wir uns anschicken zu wählen, wird, so glaube ich, vor allem ein Gremium sein, das Elemente vereint, die selbst wiederum einigende Kraft haben.
Aber auch strukturell gesehen befindet sich Europa mit der Direktwahl zum europäischen Parlament am Vorabend einer sehr bedeutenden, in den Verträgen vorgesehenen Veränderung, die sicherlich Auswirkungen auf die gesamte weitere Entwicklung des Aufbauwerkes haben wird.
Was bedeuten diese Wahlen, welches ist ihre kurz- und mittelfristige Tragweite? Auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes ist es nicht leicht, die Elemente, die zur Beantwortung dieser Fragen notwendig sind, auszumachen. Der Wahlkampf erregt die Neugierde und das Interesse der Bevölkerung, aber viele politische und kulturelle Kräfte sowie ein Teil der Presse haben große Mühe und es gelingt ihnen nicht immer ganz, die Neuartigkeit dieses Ereignisses zu erkennen und damit zu deuten. Es besteht die Tendenz, sich an die auf nationaler politischer Ebene gebräuchlichen Schemata zu halten. Wie man sieht, muß man sich auch erst an die europäische Dimension gewöhnen, was im übrigen zu erwarten war.
Ich glaube jedenfalls, daß diese Direktwahlen eine neue Phase beim Aufbau Europas einleiten werden, die durch eine aktivere und stärkere Beteiligung der Bevölkerung gekennzeichnet sein wird. Dies wird insbesondere für die jungen Generationen von großer Bedeutung sein, die bisher in der Gemeinschaft keinen hinreichenden Anreiz für ihr Engagement und ihre schöpferischen Ideen gefunden haben.
Kommen wir nun zum Problem der Befugnisse des Parlaments. Auch in meiner Eigenschaft als Präsident des derzeitigen Europäischen Parlaments, dessen Mitglieder noch von den nationalen Parlamenten benannt wurden, möchte ich Ihnen sagen, daß es sich hierbei größtenteils um ein Scheinproblem handelt. Wer davon spricht, beweist nur, daß er die sich bereits seit geraumer Zeit in den Plenarsälen in Straßburg und Luxemburg vollziehenden Ereignisse sehr oberflächlich beobachtet hat. Das Europäische Parlament ist bereits heute etwas lebendiges, das sich durch die Beiträge der verschiedenen einzelstaatlichen Traditionen seine eigene Existenzform geschaffen hat. Seine Befugnisse sind alles andere als begrenzt. Das Europäische Parlament kann jedes Thema behandeln, wie und wann es will, nachdem es darüber beraten und abgestimmt hat. In der tat hat sich der Themenkreis seiner Debatten ausgeweitet und ist politischer geworden, wobei insbesondere immer häufiger die verschiedenen Aspekte der Politischen Zusammenarbeit geprüft werden, die pragmatisch zwischen den Neun außerhalb der Verträge eingerichtet wurde. Auch kann man nicht sagen, daß es lediglich beratende Befugnisse habe. Das Parlament hat, abgesehen davon, daß es die Kommission durch einen Mißtrauensantrag stürzen kann, bekanntlich weitreichende Befugnisse im haushaltspolitischen Bereich. Die Gemeinschaft ist schließlich bereits heute ohne die Zustimmung des Parlaments nicht zu regieren: nach den Juni-Wahlen wird dieser Tatbestand auf Ebene der Massenmedien und somit im Bewußtsein der Bevölkerung nur deutlicher zutage treten.
Die oft beschworenen Grenzen des Europäischen Parlaments - ob man sie nun wie eine Zwangsjacke bestätigen oder mit einem Handstreich wegwischen will - sind in Wirklichkeit eher dem europäischen Aufbauwerk in seiner Gesamtheit zuzuschreiben.
Man braucht nur daran zu denken, wie rudimentär und unvollständig die gemeinsamen Politiken sind; auch das Währungssystem; der Prozeß der politischen Zusammenarbeit, der doch so viele Erwartungen in anderen Kontinenten geweckt hat. Das sind die Aufgaben, die das in allgemeiner unmittelbarer Wahl gewählte Europäische Parlament weiterführen muß: Es muß wichtige Impulse zur Vervollständigung der Gemeinschaft geben, indem es die Verzerrungen, die heute zutage treten, korrigiert und den Prozeß auf die Bereiche, die die heutige Zeit nahelegt oder gar zwingend vorschreibt, ausdehnt.
Angesichts des fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses, in dem zwar unbefriedigenden, aber doch beachtlichen und nicht mehr rückgängig zu machenden Entwicklungsstadium, das wir erreicht haben, und zu einem so wichtigen Zeitpunkt, wie dem der ersten Wahl, an der viele Millionen europäische Bürger unmittelbar teilnehmen werden, glaube ich, daß wir einmal verweilen sollten, um die Bedeutung und das Bild, das man sich vom Aufbau Europas in der Welt und auf unserem Kontinent selbst macht, nochmals zu überdenken.
In bezug auf den ersten Aspekt wissen wir, daß das Bild, das man sich von Anfang an von der Gemeinschaft im Ausland gemacht hat, in gewisser Weise die tatsächlichen Ergebnisse, die wir erreichen konnten, vorwegnahm. Dies geschah natürlich nicht zufällig, sondern war darauf zurückzuführen, daß im internationalen Gleichgewicht Raum blieb für eine kulturelle, politische und wirtschaftliche Kraft, wie sie die vereinten Völker Europas entfalten können, sowie auf die richtige Haltung, die die Gemeinschaft von Anfang an beispielsweise in ihren Beziehungen zum afrikanischen Kontinent (in ihren Beziehungen zu Lateinamerika war sie allerdings weniger glücklich) eingenommen hat.
Die Anziehungskraft des Einigungsprozesses in Europa ist ebenfalls eine in den letzten zwanzig Jahren hinreichend erwiesene Tatsache. Jetzt zeichnet sich der Beitritt von drei südeuropäischen Ländern mit großen und edlen Traditionen ab, die unserer Gemeinschaft größeres Gleichgewicht verleihen können. Für alle drei Länder bedeutet der Beitritt zur Gemeinschaft nach den bitteren Erfahrungen der Diktatur den Abschluß ihrer mühsamen Rückkehr zur Demokratie; diese Rückkehr war unerläßlich, wenn sie den Anschluß an die europäische Geschichte nicht verpassen wollten.
Es gibt aber in Europa noch andere Völker, die ebenfalls große Traditionen besitzen und ebenfalls von der Vorrangstellung des demokratischen Systems überzeugt sind, die jedoch zu diesem Zeitpunkt aus verständlichen und anerkennenswerten Gründen nicht am Einigungsprozeß teilnehmen können. Daneben gibt es die mittel- und osteuropäischen Staaten, welche die schmerzlichen Ereignisse des letzten Weltkrieges zu einer Gesellschaftsordnung geführt haben, die sich von der unseren unterscheidet, ja im Gegensatz zu ihr steht. Meines Erachtens müssen wir diese Realitäten vor Augen haben. Ich glaube, daß diese Realitäten uns zum einen die Verpflichtung auferlegen, einsatzfreudig und tatkräftig zu handeln - in dem Sinne, daß wir, von der Geschichte begünstigt, die Verantwortung und die Aufgabe haben, auf dem Weg der Einheit weiter voranzuschreiten - und zum anderen von uns verlangt, jeder Überheblichkeit, jeder Rhetorik und jedem Monopolanspruch zu entsagen. Kurz, wir müssen unverweilt vorwärtsgehen, der Realität ins Auge sehen und hohle Beteuerungen vermeiden, wir müssen uns aber auch vergegenwärtigen, daß wir die Nichtbeteiligten, die ebenso gute Europäer sind, nicht vergessen und auch nicht ersetzen können.
Es gibt Risse in der Geschichte und in der Kultur, über die ein politischer Prozeß, insbesondere von der Bedeutung des europäischen, nicht einfach hinweggehen kann, die er respektieren muß. Diese Risse dürfen uns nicht aufhalten, wir müssen aber auch vermeiden, daß sie in Erwartung einer langsamen und heute noch unvorhersehbaren Vernarbung noch vertieft werden.
Ist dies vielleicht eine zu schwierige Aufgabe und steht sie im Gegensatz zu dem vorrangigen Ziel des europäischen Aufbauwerks, das wir fortzuführen beabsichtigen? Ich glaube nicht, und ein Beweis dafür scheint mir die bisher zurückgelegte Wegstrecke zu sein. Die Beseitigung seit alters her bestehender Spannungen zwischen den Völkern der Gemeinschaft - die in so zahlreiche und für ganz Europa verheerende Konflikte mündeten -, die schrittweise im Wirtschaftsleben erzielten Ergebnisse und die neuen Möglichkeiten, die sie eröffneten - trotz vieler Befürchtungen, die sich als kurzsichtig erwiesen, vor allem im Bereich der handelspolitischen Beziehungen und der industriellen und technischen Zusammenarbeit mit Drittländern -, haben zur Genüge bewiesen, daß das europäische Aufbauwerk das Verständnis und die Entspannung zwischen den Staaten unseres Kontinents fördert und nicht behindert.
Gewiß, wenn wir weiter voranschreiten, werden sich immer wieder neue Probleme stellen.
Deshalb muß ein Forum wie der Europarat, in dem sich alle europäischen Länder mit demokratisch-parlamentarischer Regierungsform zusammenfinden, neuen Auftrieb erhalten und neue Bedeutung gewinnen.
Deshalb ist jede Weiterentwicklung der Kontakte zwischen der Gemeinschaft und den sozialistischen Ländern mit Interesse zu verfolgen, ob sie nun direkt oder aber in einem bedeutenden multilateralen Rahmen gepflegt werden, wie beispielsweise der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der die Gemeinschaft übrigens von Angang an offen und kooperativ gegenüberstand.
Sehr umfangreiche Aufgaben erwarten also die Europäische Gemeinschaft sowohl im politischen Bereich als auch in den verschiedenen Bereichen der Wirtschaft. Im dritten Jahrzehnt ihres Bestehens muß unsere Gemeinschaft geographisch ausgewogen zwischen der Nordsee und dem Mittelmeer und mit einem Parlament ausgestattet, das nunmehr die volle Beteiligung der Völker am weiteren Prozeß gewährleisten kann, es auch verstehen, in einer Gesamtschau die Zukunft der betreffenden Themen zu erfassen, mit denen sich eine große moderne Gesellschaft auseinandersetzt. Zweifellos ist das eigentliche Problem jeder fortgeschrittenen Gesellschaft von heute, das Problem, das alle anderen Fragen bestimmt, die Suche nach einer Form der ausgewogenen und nicht zersplitterten Entwicklung, die alte Ungerechtigkeiten beseitigt und nicht nur ein blindes Vorwärtsstürmen ist, das auch die Möglichkeit schlimmer Stockungen oder sogar Rückschritte in sich birgt.
Es ist das Problem dieses zu Ende gehenden Jahrhunderts und wahrscheinlich auch des beginnenden Jahrtausends. Es ist von einer solchen Bedeutung, daß seine Lösung sicherlich die Anziehungskraft mitbestimmt, die die europäische Sache zunehmend auf die junge Generation ausüben kann, und für die Rolle ausschlaggebend ist, die Europa in der Welt einnehmen will.
Glücklicherweise gibt es auf unserem Kontinent politische Kräfte und Ideale, die der Demokratie in unseren Ländern und dem europäischen Einigungsprozeß zugrunde liegen und die in der ihren wechselseitigen Beziehungen kennzeichnenden loyalen Dialektik fähig sind, ihren Beitrag zur Lösung dieses Problems zu leisten.
Entgegen den allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Grundsätzen und wider besseres Wissen wird mit einigen der wichtigsten Rohstoffe, die für die Länder der Dritten Welt unentbehrlich sind, sinnloser Raubbau getrieben, schlagen wir uns weiterhin mit ungeheuren und gefährlichen Verkehrsproblemen herum, konzentrieren sich weiterhin in begrenzten übervölkerten Zonen Anlagen jeder Art.
Zum anderen ist auch die soziale Dialektik in unseren Ländern schon so weit gediehen, daß immer häufiger widersprüchliche Antworten gegeben werden, was sich darin äußert, daß nur Scheinergebnisse und Scheinerfolge erzielt werden, die rasch in effektive Nachteile und wachsende Frustrationen für die Benutzer selbst umschlagen. Das hat seinen Grund in der Unfähigkeit, eine echte Bewertung der globalen Interessen der technologisch fortgeschrittenen Gesellschaften, wie der unseren und ihrer Bedeutung, im Vergleich zu den herkömmlichen Erwartungen dieser oder jener Gruppe vorzunehmen.
Diese geschichtlichen Tendenzen müssen umgekehrt werden, auch wenn dazu viel Mut und politische Initiative erforderlich sind. Jedenfalls entspricht diese Aufgabe dem Genius unserer Völker, die bereits andere wichtige Entwicklungen der Menschheit bestimmend beeinflußt und gefördert haben, und kann auch die Erwartungen der jüngeren Generationen erfüllen.
Das Ziel einer weltweiten neuen Arbeitsteilung entspricht den Möglichkeiten einer Europäischen Gemeinschaft, die schrittweise ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und es den blinden unveränderlichen Gesetzen des Kräftespiels zwischen den Staaten entziehen will, um es in harmonischer Zusammenarbeit mit den Völkern anderer geographischer Zonen zu gestalten. Zwar ist das Problem sehr vielschichtig und erfordert internationale Absprachen, die die Entstehung eines umfassenden Gefühls der Solidarität zur Voraussetzung haben. Doch muß dieser Weg beschritten werden, für den die europäische Gemeinschaft mit ihrem kulturellen Erbe und ihren Erfahrungen besonders geeignet erscheint.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
am Vorabend der europäischen Wahlen erfordert der Fortschritt unserer Gemeinschaft über alle noch vorhandenen Hindernisse und Gefahren hinweg erneut die Fähigkeit zur Synthese und zur politischen Führung - das war der Sinn meiner vorangegangenen Überlegungen.
Dieses Engagement müssen alle Kräfte, die an die europäische Union glauben, zum Ausdruck bringen. Wir können nicht hinnehmen, daß nationale Egoismen weiterhin dominieren und die wenn auch schrittweise so doch ausgewogene Expansion der gemeinsamen Politiken, die vor allem das soziale Bewußtsein der Gemeinschaft stärken soll, behindern.
Die Öffentlichkeit versteht nicht, warum Europa zögert, die Probleme, die jede Firma und jeden Haushalt betreffen, wie z. B. die Energieversorgung, energisch anzugehen. In den Augen von Drittländern schaden wir uns selbst in diesem wie in anderen Bereichen durch unser Zögern noch mehr.
Sicherlich hängt diese Schwierigkeit, die nach und nach fälligen Entscheidungen ausreifen zu lassen, auch mit der Unzulänglichkeit des institutionellen Gleichgewichts zusammen. Das in den fünfziger Jahren festgelegte und wiederholt gestörte Gleichgewicht kann den neuen Erfordernissen nicht mehr gerecht werden. Dieses Thema sollte in den nächsten Monaten im Parlament und außerhalb eingehend und konkret erörtert werden.
Die Gemeinschaft hat gute Aussichten auf erneutes Wachstum und Konsolidierung: das Instrumentarium zur Förderung und Lenkung dieses Fortschritts muß so bald wie möglich überprüft und vervollständigt werden.