Ich freue mich, daß ich heute nochmals in der Stadt Aachen weilen darf, die zu Recht ihre europäische Tradition in Ehren hält. Und ich bin glücklich darüber, daß ich anläßlich der Verleihung des Karlspreises diese Ansprache halten kann. Es ist in Europa zur Genüge bekannt, welche Bedeutung und welchen Wert dieser Preis beinhaltet. Daher ist es mir auch eine besondere Freude, daß Sie in diesem Jahr den Karlspreis der Stadt Aachen dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Dr. Emilio Colombo, zuerkennen wollen. Das Gremium, das den italienischen Politiker für diese hohe Auszeichnung ausersehen hat, kann man beglückwünschen.
Emilio Colombo wurde am 11. April 1920 in Potenza geboren. Geboren im Zeichen des Widders hat er wohl immer eine große Beharrlichkeit in seiner Überzeugung gezeigt, doch nie ist er bei der Verteidigung seiner Grundsätze ungestüm vorgegangen; nie hat er dabei jemanden verletzt. Die Höflichkeit ist ihm angeboren.
In sehr jungen Jahren befaßte er sich mit der Führung der katholischen Jugendbewegung in seinem Lande, und es war eigentlich nicht verwunderlich, daß er, der inzwischen zum Doktor juris promoviert hatte, im Jahre 1946 bei den Wahlen zum italienischen Parlament kandidierte.
Eine neue Periode begann für sein Vaterland. Im vergangenen Jahrhundert hatte Italien eine bewegte Geschichte gekannt. Die Vereinigung des Landes hatte bei vielen zu schweren Gewissenskonflikten geführt; deshalb hatte sich ein wichtiger Teil der Bevölkerung vom öffentlichen Leben abgekehrt. Nach dem ersten Weltkrieg versuchten einige politische Führungskräfte, die einen klaren Blick bewahrt hatten, diese Distanzierung zu durchbrechen. Doch die Machtergreifung eines totalitären Systems verhinderte eine normale Entfaltung der Nation in einer pluralistischen Demokratie.
Erst nach dem zweiten Weltkrieg gelang der Aufbau einer parlamentarischen Demokratie, die sich vorbehaltlos auf eine ganze Nation stützen konnte. Emilio Colombo, die führende Figur der jungen Generation, setzte sich ab 1946 für dieses große Werk ein.
Abgeordnete im italienischen Parlament seit der Verfassunggebenden Versammlung im Jahre 1946, war er Mitglied der Regierungen von Ministerpräsident de Gasperi seit 1948, und zwar zunächst als Staatssekretär für Landwirtschaft und öffentliche Arbeiten. Nacheinander war er mehrfach Landwirtschaftsminister, Außenhandelsminister und Minister für Industrie und Handel; er hatte ab 1963 das Ressort eines Finanzministers inne, war Ministerpräsident von 1970 bis Anfang 1972. Im Sommer 1976 wurde er erneut Finanzminister. In seinen vielfältigen Regierungsämtern war Colombo stets ein eifriger Verteidiger der europäischen Sache, ganz besonders in der Aufbauphase und Entwicklungsperiode der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Als Landwirtschaftsminister nahm er an den schwierigen Verhandlungen teil, die nach der Messina-Konferenz zur Unterzeichnung des Römischen Vertrages im Campidoglio am 25. März 1957 führten.
In der Folge war Colombo als Mitglied des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaft an allen Beratungen und Entscheidungen, bis hin zur Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft beteiligt.
Die Krönung dieses europäischen Einsatzes war zweifelsohne seine Wahl zum Präsidenten des europäischen Parlaments am 8. März 1977.
Wiederholt hat Colombo seine Auffassungen hinsichtlich der europäischen Einigung dargelegt. In einer am 13. November 1978 in Bonn gehaltenen Rede erklärte er: "Das Europa, das Sie wollen und das wir wollen, ist eine politische und kulturelle Entität, die gegenüber den Supermächten unsere Freiheit und unsere Unabhängigkeit zur Geltung bringen kann. Auf allen Versammlungen, die während dieses eigentlich jetzt beginnenden Wahlkampfes gehalten werden, müssen wir immer daran erinnern, daß unsere einzige Garantie für eine gerechte und auf die Wohlfahrt gerichtete Zukunft allein in Europa gefunden werden kann. Europa ist der einzig mögliche Weg, Europa ist eine Hoffnung, die verwirklicht werden kann. Zwar müssen wir fortlaufend unsere Mitbürger daran erinnern, was sie für Europa tun müssen, nicht nur, weil Europa sie angeht, sondern vor allem, weil die Zukunft unseres Zusammenlebens auf dem Spiel steht. Vergessen wir auch nicht, was Europa für einen jeden von uns bedeutet. Es dürfte wohl überflüssig sein, darauf hinzuweisen, in welchem Maße der wechselseitige wirtschaftliche Austausch den Fortschritt und den hohen Lebensstandard unserer Länder möglich gemacht hat.
Nun da wir Europawahlen vorbereiten, dürfen Sie den Bürgern nicht vormachen, daß schon die Wahlen allein eine Lösung bedeuten. Die Probleme, die heute bestehen, werden auch morgen auf das Leben der Gemeinschaft einwirken. Doch sind wir davon überzeugt,
-daß in diesem direkt gewählten Parlament konkrete Vorschläge für die Verwirklichung der Europäischen Union geäußert werden,
-daß innerhalb dieses Europäischen Parlaments eine Kontrollmacht Gestalt annehmen wird,
-und daß außerordentliche Impulse von hier ausgehen werden, die Europa zu einem politischen Kraftfeld ausbauen werden, das dem Anspruch unserer Völker und den Erfordernissen unserer Zeit entsprechen wird." (Ende des Zitats)
Wo man über Europa spricht, überall müssen die Grundsätze der Wahrheit und der Objektivität respektiert werden. Hierzu forderte Emilio Colombo: "Während der Wahlkampfzeit werden die Wahrheiten, die man über Europa verbreiten wird, nicht immer sehr angenehm sein. Jedoch müssen wir zusammen – und a l l e politischen Parteien müssen der Wählerschaft Europa in o b j e k t i v e r Weise vorstellen – auch den Mut haben, sowohl die Vorteile Europas wie auch seine Fehler aufzudecken.
Europa steckt in einer Krise; es muß daher neue Kräfte sammeln. Die Fähigkeit, über das Vergangene zu urteilen, und die möglichen Entwicklungen, die aus einer freien Wahl entspringen, werden die Europäer dazu ermuntern, daß sie den notwendigen politischen Willen aufbringen, der der Gemeinschaft wieder neues leben einflößt.
Die Tatsache, daß ein direkt gewähltes Parlament das Herz Europas bildet, weil in diesem Parlament der Volkswille zum Ausdruck kommen wird, bietet unserem Kontinent eine neue Chance. Hierin liegt die Hoffnung einer ganzen Generation." (La Libre Belgique, 11.4.1979)
Emilio Colombo scheut nicht davor zurück, die wunden Punkte zu bezeichnen und die Schwächen der Gemeinschaft aufzudecken, immer wenn dies notwendig erscheint.
Insbesondere hinsichtlich der Institutionen geschieht dies in einer unmißverständlichen Sprache. "Der Ernst der heutigen Probleme beweist die Aktualität der Rolle und der Aufgaben der Institutionen. Aus mehreren Gründen, vor allem weil es die Mitgliedstaaten so wollten, haben die europäischen Institutionen einen Teil ihrer Kraft eingebüßt und sind daher den schwierigen Problemen der Gemeinschaft nicht mehr gewachsen. Einerseits wird der supranationale Charakter der Kommission geschwächt; ihr Initiativrecht gegenüber dem Ministerrat wird eingeengt. Andererseits hat der Rat seine Funktion als Gemeinschaftsorgan eingebüßt; er ist immer deutlicher eine "Clearingstelle nationaler Interessen" geworden." (Rom, 28.10.1977)
Das sagte Emilio Colombo bereits 1977, sicherlich dürfte sein Urteil heute noch härter ausfallen. Zwar weiß er, daß mit Diplomatie und Überlegung sehr oft mehr erreicht werden kann als mit brutalen Aussagen. Er vergißt indessen nicht den Auftrag des Vertrages an die Institutionen, eine gemeinschaftliche Politik zu entwerfen und diese Politik dann auch zu realisieren.
Im Oktober 1978 äußerte er sich besorgt über die Entwicklung: "Mein Land Italien vertritt seit Jahren die Ansicht, daß das Nord-Süd-Gefälle in der Gemeinschaft unbedingt abgebaut werden muß, und zwar durch eine angemessene Verstärkung der Instrumente, über die die Gemeinschaft verfügt. Wir müssen die Regional- und die Sozialpolitik wiederbeleben und dafür die nötigen Mittel bereitstellen. Wir müssen damit verbinden eine konsequente Industriepolitik; wir müssen – viel intensiver als bisher – eine gezielte landwirtschaftliche Strukturpolitik betreiben. Wir müssen insbesondere den Fragen der Agrarwirtschaft in den Mittelmeerländern größte Aufmerksamkeit widmen. Wir fordern von den Verantwortlichen eine Politik, die ein besseres Gleichgewicht zwischen den Regionen Europas herbeiführt."
Diese Aussagen verdeutlichen und vervollständigen das Bild, das wir uns von den europäischen Ideen Emilio Colombos machen können. Er will die europäische Integration; er weiß, daß dabei die Organe der Gemeinschaft eine entscheidende Rolle spielen.
Die Institutionen müssen gut funktionieren, nur dann kann politische Macht wirksam und gleichwertig entfaltet werden.
Er ist sich der seit Jahren andauernden Krisensituation bewußt, die die europäische Begeisterung gedämpft, ja fast abgetötet hat.
"Den Zustand in Europa muß man ohne Illusionen analysieren", sagte er am 8. März 1977 vor dem Europäischen Parlament, "der Zustand ist ernst. Die öffentliche Meinung stellt sich Fragen; es gibt keine Sicherheit mehr. Die Wirtschaftskrise hemmt unseren Willen zum Zusammenleben und untergräbt den Lebenswillen, wodurch natürlich die Widerstände und Zerwürfnisse an Raum gewinnen. Nur eine politische Einsicht, die wirklich in der Gemeinschaft verankert ist – nur ein politischer Wille, der das wahre gemeinsame Interesse unserer Völker in den Vordergrund stellt, kann diesen Zustand überwinden."
Dabei rechnet Colombo vor allem auf die Jugend. Sie ist es ja, die das politische Kräftefeld am schärfsten beobachtet. Schließlich soll Europa ja aufgebaut werden, um der Jugend eine Zukunft zu geben.
"In die Fortentwicklung des Einigungsprozesses", so sagt Colombo, "muß in viel stärkerem Masse als bisher die junge Generation einbezogen werden; wir brauchen ihre Mitarbeit; Wir müssen ihr in Europa einen Platz geben. Die Mehrheit der jungen Europäer besitzt mehr Kultur, mehr Reife, mehr Toleranz als die vorige Generation; indessen fällt es ihr noch schwer, sich politisch zu äußern."
Auch auf dem politischen Feld gerät Europa ins Hintertreffen. Und dabei ist das Gleichgewicht in der Welt, ist die Entspannung und ist selbst der Friede in großem Maße von der Haltung Europas abhängig. Colombo vertritt die Ansicht, die Entspannung sei unteilbar "nicht nur aus geographischen Überlegungen, sondern auch wegen der menschlichen Wirksamkeit, vor allem auf dem Gebiet des Friedens. Das Problem ist nicht einfach: Wir müssen versuchen, auf einem sehr oft schmalen Weg voranzuschreiten; wir müssen in der eingeschlagenen Richtung unseren Prinzipien absolut treu bleiben. Doch bald müssen wir den Willen aufbringen, den Rahmen der Koexistenz in Europa echt zu verbessern."
Auf einige der wesentlichen Fragen unserer Zeit hat Emilio Colombo durch seine Haltung und seine Erklärungen Antwort gegeben. Aktiv und mit dem eigenen Beispiel hat er gezeigt, daß eine dreifache Treue realisierbar ist: Die Treue zur Region, die Treue zum Vaterland und die Treue zu Europa.
Er stellt die Gemeinsamkeiten heraus und sucht nicht nach künstlichen Gegensätzen, wie es manche tun, die die Idee der europäischen Integration an der Wurzel angreifen und uns einreden wollen, Europa stehe im Widerspruch zum Vaterland und zu einer berechtigten Vaterlandsliebe. Ich erinnere an den Satz von Walter Hallstein: "Europäer sind keine vaterlandslosen Gesellen!"
Nach Jahrzehnten grausamer Kriege und wirtschaftlicher Konflikte hat Europa begriffen, daß die Zukunft g e m e i n s a m vorbereitet werden muß.
Die Herausforderung durch die jungen Nationen, die Rohstoffverknappung und der Mangel an Energiequellen in Europa, die notwendige Suche nach einer Erneuerung unserer industriellen Landschaft, eine ernsthafte Umweltschutzpolitik, die gemeinsamen Anstrengungen in der wissenschaftlichen Forschung und die Festlegung eines verantwortungsbewußten Standpunkts in den entscheidenden Bereichen der Weltpolitik – all diese Probleme können nur dann gemeistert werden, wenn die europäischen Länder einen gemeinsamen politischen Willen entfalten, wenn sie die vorhandenen Institutionen mit neuem Leben erfüllen und wenn sie die gegebenen Instrumente tatsächlich nutzbar machen.
Ein solch großes Unternehmen kann nicht mit den diplomatischen Vorstellungen und Praktiken des 19. Jahrhunderts verwirklicht werden. Es genügt eben nicht, eine simple Allianz zwischen souveränen Staaten zu errichten, die bei der ersten Schwierigkeit ins Wanken gerät oder vergessen wird. Das Ziel ist vielmehr, die Zukunft vorzubereiten, der jungen Generation Hoffnung und Aussichten zu geben, damit sie sich nicht in einer defätistischen Haltung verliert. Unser Ziel ist es nicht, aus Europa einen Schmelztiegel zu machen, der jeden kulturellen Reichtum aufsaugt und ihn durch eine uniforme, farblose Zivilisation ersetzt; das wäre eine nicht zu verantwortende Entwicklung. Wir wollen Europa eine Form geben, in der es seine Einheit gewinnt und seine Vielfalt bewahrt.
Europa muß sich seine Zukunft selbst erarbeiten. Die Situation des europäischen Bürgers und seine Forderungen und Ansprüche haben einen ganz spezifischen Charakter. Deshalb muß auch das Modell für das Zusammenleben in Europa einen spezifischen Charakter haben. In der heutigen Krisensituation steht sehr viel auf dem Spiel. Sehr schnell vergessen wir, daß die politischen Tragödien vor dem Zweiten Weltkrieg in der Zersplitterung, in der Verzweiflung und im Chaos ihren Ursprung fanden, Erscheinungen, die für dies Periode bezeichnend waren. Seitdem hat die soziale Gesetzgebung in unseren Ländern große Verbesserungen erfahren.
Indessen lebt der Mensch nicht vom Brot allein. Eine Gesellschaft ohne Hoffnung und ohne Zukunftsaussichten für die junge Generation wird schnell zum Opfer von Schockeinwirkungen.
Ich bin fest davon überzeugt, daß wir Europa schaffen müsse, wenn wir die Demokratie retten und die Zukunft gewinnen wollen. Nur wenn wir die Gemeinschaft handlungsfähig machen, haben wir die Chance, die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu überwinden; sie werden nicht wie ein böser Spuk von selbst verschwinden; wir müssen handeln, g e m e i n s a m handeln: gemeinsam für Blühen und Wachstum unserer Wirtschaft, gemeinsam für Währungsstabilität, gemeinsam für Vollbeschäftigung, gemeinsam für einen erfolgreichen Ausgang des Nord-Süd-Dialogs, gemeinsam für die weltweite Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten, gemeinsam für den Frieden in der Welt.
Wenn die Gemeinschaft diese Probe besteht, wenn das Werk gelingt, dann kann sie Modell und Beispiel für andere werden.
Wenn wir jetzt Europa einen Schritt weiterbringen, dann zeigen wir Solidarität; dann weigern wir uns, die Behauptung anzuerkennen, dieses Europa sei dekadent und zu nichts Großem mehr fähig. Uns ist die Chance gegeben; wir haben nicht das Recht, sie zu verspielen oder auf künftige Generationen zu vertagen; wir müssen die Chance j e t z t nutzen.
Was in den fünfziger Jahren – kurz nach einem grauenvollen Weltkrieg – bei gewichtigeren Verschiedenheiten zwischen den Staaten als heute – von weitsichtigen, mutigen Staatsmännern wirkungsvoll begonnen wurde, muß neu belebt, fortentwickelt und seinem Ziel zugeführt werden: dieses Ziel ist die politische Europäische Union.
Es ist gar nicht erstaunlich, daß jetzt, vor den europäischen Direktwahlen, die Finalität der europäischen Konstruktion im politischen Streit steht. Ein gewisser Nervenkrieg hat eingesetzt, und wir müssen abwarten, bis sich die Gemüter wieder abgekühlt haben, bevor wir über die kommende Phase sprechen können. Doch will ich jetzt schon erklären, daß es sinnlos wäre, 180 Millionen Wähler zu den Wahlurnen zu rufen, wenn sich nachher herausstellen sollte, daß es sich hierbei um eine lästige Operation ohne weitere Folgen weder für das Europäische Parlament noch für Europa gehandelt hat.
Die laufende europäische Wahlkampagne bietet eine wertvolle Chance, Wahlbürgern vor Augen zu führen, warum die europäische Einigung eine Notwendigkeit ist. "Es gibt für unsere Länder keine andere Lösung", pflegte der verstorbene Jean Monnet immer zu sagen. Es ist bedauernswert, daß eine weit überwiegende Mehrheit unserer Mitbürger zwar latent und mehr vom Herzen als vom Verstand her europäisch gesonnen ist, dabei aber nicht weiß, um was es eigentlich geht. So leben denn auch allzu viele in einer Art wohlwollender Gleichgültigkeit und glauben, Europa sei lediglich die Sache von Ministern und Diplomaten.
Deshalb müssen wir das Gespräch mit dem Bürger nutzen, um allen Europäern deutlich zu machen, daß es bei dieser Wahl um ihre Zukunft geht. Je besser die Information und je stärker das Zusammengehörigkeitsgefühl ist, desto stärker wird auch das Verständnis dafür sein, daß Europa ausgebaut und die europäischen Institutionen gestärkt werden müssen.
Europa darf nicht die Sache von einigen Ländern sein, sicher nicht die Angelegenheit der beiden Großen. Europa muß von allen Mitgliedstaaten gleichermaßen bejaht und getragen werden. Effiziente Organe müssen die Gewähr für Gerechtigkeit und Gleichgewicht bieten. Nur unter diesen Bedingungen werden die größeren und kleineren Länder sich sicher fühlen; nur so können auch Beschlüsse von großer Tragweite durch die Mitgliedstaaten und durch ihre Völker unterstützt werden.
Trotz aller Kritik an den Direktwahlen zum Europäischen Parlament ist dieser Urnengang ein historischer Augenblick in der Geschichte Europas. Nach Jahrzehnten von Haß und Widerständen wird ein direkt gewähltes Parlament über unsere gemeinsame Zukunft beraten und die politischen Richtlinien festlegen. Historisch gesehen, sind die Wahlen ein Wendepunkt.
In der Wahl, können wir eine Antwort geben auf die Herausforderung unserer Zeit: unsere Vernunft und unser Verstand sagen uns, daß die europäische Integration die einzige Lösung für unsere Länder darstellt. Sollten wir daher auch nicht den politischen Willen aufbringen, um das zu vollbringen, was Verstand und Vernunft uns diktieren? Sollte nicht die Vernunft siegen über Leidenschaft auf der einen und Passivität auf der anderen Seite?
In diesen Tagen war einmal die Rede von einem Europa der Intelligenz; das wäre zweifelsohne einem Europa der Dummheit vorzuziehen.
Ich plädiere für ein Europa der Vernunft, wobei ich selbstverständlich die Intelligenz nicht ausschließe. Wenn wir unsere Vernunft anwenden, muß es möglich sein, morgen eine große Debatte zu beginnen, die uns eine politische Formel voll Hoffnung und Zukunft bringt.
Ich halte nichts von der pessimistischen Prophezeiung, daß es im Europäischen Parlament zwar viele schöne Reden geben werde, daß jedoch die erforderlichen Taten ausbleiben werden. Unsere gemeinsame europäische Sorge muß es sein, politische Vernunft, wache Intelligenz und konsequente Einsichtigkeit in die Entscheidungsprozesse einzubringen. Wenn das gelingt, wird die politische Aktion nicht ausbleiben.
Emilio Colombo hat all seine Kräfte und sein ganzes Streben, wo immer es möglich war, darauf gerichtet, einen intelligenten Beitrag zur europäischen Integration zu liefern. Niemals überwog bei ihm die Leidenschaft über die Vernunft. Immer war er bemüht um Klarheit in seinen Vorstellungen und Ideen und um Vernunft in seinen Lösungsmodellen. Aber seine vornehm maßvolle Art ist gepaart mit einem hartnäckigen Willen, der ihn stets beseelte.
Wir können ihm nur Glück wünschen zu dieser konstanten, an Grundwerten ausgerichteten Haltung in einer Welt, die sich leider sehr oft durch Unbeständigkeit und Vulgarität auszeichnet.
Möge sein Aufruf vom 13. März dieses Jahres von allen Europäern gehört werden: "Arbeiten wir dafür, daß die Direktwahlen zum Europäischen Parlament in unserer Gemeinschaft das Spiegelbild des Vertrauens in die Einigungsbestrebungen werden – daß sie für die Welt eine Botschaft der Hoffnung und des Friedens, der Entwicklung und der Bürgerfreiheit darstellen – Ziele, die nur durch die parlamentarische Demokratie verwirklicht werden können."