In die Brüderschaft jener Männer aufgenommen zu werden, die so viel zu der Geburt und dem Wachstum der Einheit Europas beigetragen haben, ist eine Ehre, die jeden Europäer mit Stolz erfüllen muß. Verkündet durch diese Stadt - eines der ältesten Zentren in der Geschichte, die vom europäischen Funken entzündet leuchtet - wird diese Ehrung noch kostbarer durch die Hände, die sie verleihen. Ich möchte Ihnen, Herr Oberbürgermeister, und Ihren Mitarbeitern meinen tief empfundenen Dank aussprechen.
Aachen, Aken, Aix la Chapelle, Aquisgrän, allein die Vielfalt der Namen, welche die Stadt erhält, zeugt für die europäische Weite des Gebiets, das sie mit ihrem Geist erfüllt: so daß eine jede Nation sie mit einem ihr vertrauten, heimatlich klingenden Namen benennt, welcher beiden gemeinsam ist: dem Land, das ihn gibt, und der Stadt, die ihn erhält. Man muß lediglich den Rhein verlängern, um eine Linie von Aachen bis Rom zu ziehen; eine Linie, die dem europäischen Rückgrat gleichkommt; denn sie erstreckt sich vom Zentrum der weltlichen zum Zentrum der geistlichen Macht des Kontinents. Dieser unser Erdteil, der kleinste von allen, war dazu bestimmt, die Welt jahrhundertelang zu führen und - ich glaube fest daran - ist auch bestimmt, sie wieder zu führen, sobald er sich einen politischen Körper geschaffen hat, der den Notwendigkeiten unserer Zeit und seines eigenen Geistes entspricht.
In diesem Lichte gesehen, erscheinen diese Stadt und ihre Nachbargebiete besonders wichtig, denn in ihnen wurden Männer geboren, deren Denken sich bereits in der Richtung eines europäischen Staates bewegte. Sie alle trugen den Vornamen Karl und ihre Dynastie wurde von Karl dem Ersten gegründet: dem großen Kaiser, dessen Namen heute, bei unserer Zusammenkunft hier, den Vorsitz führt: ein Mann, dessen europäische Größe ermessen werden kann, wenn man bedenkt, daß er gegen die Heiden in Sachsen und gegen die Muselmänner in Spanien zu kämpfen hatte: ein Monarch, der im Jahre 800 Kaiser von Europa wurde, denn dies ist's, was sein Titel tatsächlich bedeutet.
Karl der Zweite war der Monarch, der in Spanien den Namen Karl der Erste führte und der in Deutschland Karl der Fünfte genannt wurde: in Frankreich jedoch war er Charles Quint zweifelsohne ein spanisches Zahlwort - was beweist, wie eng verwoben mit Spanien sein ganzes Leben im Bewußtsein seiner Zeitgenossen war. Geboren in Gent im Lande der Windmühlen, die vom Land der Don Quijotes für Riesen angesehen wurden, war es Karl des Fünften Los, gleich dem Karls des Großen. Im Osten gegen Heiden und im Süden gegen Muselmänner zu kämpfen; sein ganzes Leben hindurch träumte er von der Einheit Europas; sowohl im mittelalterlichen Sinn, als kaiserlicher Oberlehensherr aller Könige, wie auch im modernen, als das Staatsoberhaupt Europas.
Karl der Dritte hingegen war ein von seinen Vorgängern sehr verschiedener Karl. Unter dem Namen Karl Marx kennt ihn die ganze Welt und ein erheblicher Teil von ihr sieht in ihm seinen Führer. Geboren wurde er ganz nahe von hier, sozusagen um die Ecke, in Trier. Er gehörte einem Volke an, dessen Nacken durch Jahrhunderte der Unterdrückung und der Achtung gebeugt worden war. Er jedoch würde sich nicht beugen. Seine stählerne Wirbelsäule schoß in gerader Vertikallinie empor, mit solch brennendem Stolz, daß diese Leidenschaft allein ein weltweites politisches Erdbeben zur Folge hatte, dessen Nachwehen noch heute unseren östlichen Horizont verdüstern.
Und nun zu Karl dem Vierten. Es war natürlich Charles de Gaulle, wunderbarerweise so genannt, der in die Weltgeschichte als der Erbauer der besten Rheinbrücke eingehen wird.
Diese vier Männer, die dem Namen Karl universellen Ruf verliehen haben, gehören zu den bedeutendsten Monarchen in Europas Geschichte, doch ein jeder von ihnen auf andere Weise: aber es würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen, die Unterschiede zwischen ihnen zu beschreiben. Karl der Erste und Karl der Zweite waren die europäischsten; diese beiden hätten Edward Heath und Jean Monnet größtes Verständnis entgegengebracht. Karl der Dritte, obschon zutiefst Europäer, hegte weltumspannende Träume. Sein Ehrgeiz überflog die Grenzen Europas. Nach der Art seiner jüdischen Vorfahren, war er eher Religionsstifter als Gründer eines Staatenbundes.
Und was nun Karl den Vierten betrifft, so war es sein Bestreben, daß nicht Frankreich sich an Europa, sondern Europa sich an Frankreich anpassen möge, denn seine Vision Frankreichs war unbegrenzt.
Europa jedoch ist, wie es ist und wie es irgendeiner unter uns erträumen mag. Es ist kein Riese, eher eine rechtschaffene Windmühle, in der die Räder der Vernunft das Korn der Natur mahlen, getrieben von den Winden der Leidenschaft. Denn der Mensch ist so beschaffen, daß das Feuer der Leidenschaft in seinem Leben lodern muß, um die Kraft für seine Handlungen und das Licht für seinen Weg zu erzeugen.
Die Mutterzelle Europas ist die Schweiz. Was Europa nun werden soll, dort wurde es geboren und dort hat es Jahrhunderte hindurch gelebt: Vielfalt in Harmonie. Es entspringen in der Schweiz zwei und sehr nahe zu ihr der dritte der drei Flüsse, die gleichsam die Koordinaten unseres europäischen Raumes sind: der Rhein, die Rhone und die Donau: keiner von ihnen ist so lang und so breit wie mächtige Ströme, die auf anderen Kontinenten fließen, denn, verglichen mit anderen Erdteilen, ist Europa klein. Doch, gleich den Bergen, denen sie entspringen, bilden diese Flüsse Trennungswände, in denen es auch eine Anzahl von Buchten, Nischen und Ecken gibt, wo europäische Völker Jahrhunderte hindurch ihre Eigenarten entwickeln konnten: diese Trennungswände jedoch sind nicht so bedrohlich, daß sie den freien Verkehr auf geistigem und materiellem Gebiet zwischen jenen voneinander verschiedenen Europäern verhindert hätten. Die Mischungen, die wir diesem Umstand verdanken, brachten eine Elite von großen Geistern hervor, denen wir auf allen Gebieten schöpferischen Lebens Wunderbares verdanken. Wir Europäer sollten nicht einen Augenblick lang vergessen, daß ein ständiger Austausch, ein häufiges Kommen und Gehen über unsere Grenzen von uns allen für das Leben Europas wesentlich ist. Hierüber müssen wir uns im Klaren sein. Die Vielfalt Europas, die es ihren seßhaften, in friedlicher und schöpferischer Abgeschiedenheit lebenden Völkern verdankt, muß durch die stetige Schaffung einer über die Grenzen hinaus reichenden europäischen Elite wettgemacht werden, einer Elite, deren scharfer Intellekt und lebendiger Wille eben auf jener Vermischung europäischer Charaktere beruht, von der sie geformt wird. Ein jeder Grenzpfahl, der die Bewegungsfreiheit der Europäer hindert, bedroht die Existenz einer europäischen Zivilisation.
Wenn jedoch beim Körper Europas auf die drei Ströme als Koordinaten hingewiesen werden kann, so ist die Seele Europas aus dem Zusammenfließen zweier mächtiger Traditionsströme entstanden: Sokrates und Christus. Denn Sokrates lehrte Europa die Gedankenfreiheit zu respektieren und Christus die menschliche Person; so daß wir kühn behaupten können, daß nichts, was Sokrates vergiftet oder Christus kreuzigt, als wirklich europäisch gelten kann. Gewiß, wer wollte es leugnen, daß wir in unserer europäischen Geschichte viele Verbrechen gegen Sokrates oder Christus finden. Doch waren es Verbrechen, die Europa letzten Endes nie anders als schändliche Verirrungen beurteilte: und wir sind noch immer, ja mehr denn je, der Ansicht, daß Gedankenfreiheit und Respekt vor dem menschlichen Geschöpf wesensgleich mit Europa sind, so daß Europa dort aufhört, wo gegen das eine oder gegen beide dieser Gebote gesündigt wird.
Vernunft, das führende Licht Europas selbst in seinen schwersten Stürmen, leuchtet aus den Augen seiner größten Männer. Ein solch erlösendes Licht strahlt das Leben eines der bedeutendsten Europäer aus, nämlich das meines Landsmanns und Ihres Miteuropäers: Don Quijote. Was mir nämlich in den Sinn kam, ist jene düsterste unter den vielen Spruch-Münzen, die Karl der Vierte geprägt hat, und die ihn mit Recht berühmt gemacht haben: LES ETATS SONT DES MONSTRES FROIDS. Karl der Vierte war in seinen Irrtümern unfehlbar. Er brachte es darin zu einem Höchstmaß. Von großen Männern kann man keine geringen Irrtümer erwarten. Doch über "die kalten Ungeheuer" dachte Cervantes anders. Er beschreibt seinen Helden, der in die Netze eines katalanischen Briganten geraten, nun Zeuge ist, wie dieses "kalte Ungeheuer" seine Bande um sich versammelt, vor ihr die gesamte, seit der letzten Versammlung der Räuber erbeutete Habe ausbreitet und deren Verteilung mit der größten Gewissenhaftigkeit und der skrupellosesten Beachtung der Gesetze der Gerechtigkeit vornimmt: worauf dann Roque Guinart dem Ritter von der Traurigen Gestalt erklärt, daß wenn er anders verführe, es ihm unmöglich wäre, seine Bande beisammenzuhalten. Dies ist bedeutsam: von noch tieferer Bedeutung jedoch ist, was Sancho Panza widerfuhr; denn er hatte es gewagt, die Bemerkung fallen zu lassen, wie erstaunt er darüber wäre, daß selbst unter Dieben Gerechtigkeit herrschen müsse - worauf er Gefahr lief, von dem kalten Ungeheuer, das ihm am nächsten war, ermordet zu werden, weil er einen Dieb Dieb genannt hatte.
Diese Spiegelungen und Widerspiegelungen des göttlichen Lichts der Vernunft, das selbst während der furchtbaren Stürme und der tiefsten Finsternis in Europa nie aufhörte zu strahlen, beleuchten auch den innersten Kern unseres Wunsches nach einer europäischen Föderation. Eine Föderation bedeutet, daß ihre Mitglieder, die sich innerhalb einer Gruppe wie Christen und Gentlemen verhalten, einer anderen ihnen unter- oder übergeordneten Gruppe gegenüber nicht wie Diebe benehmen dürfen. Das ist der Sinn der Szene, die Cervantes beschreibt. Es ist auch das Prinzip, ohne das Europa nicht fortbestehen wird und es auch nicht verdiente fortzubestehen. Wenn wir Europa nicht nur als eine Marktgemeinschaft aufbauen wollen, sondern als eine Familie von Menschen, dann muß dieses Prinzip in allen unseren Institutionen unversehrt gewahrt bleiben.
Doch ein Bund ist nicht ein bloßer Pakt oder Vertrag. Er muß tiefer eindringen, bis zur Ebene des Glaubens. Die Angst und die Verwirrung, die Ungeduld und die Gewalttätigkeit, die in der Gegenwart herrschen und die besonders traurige Wirkung, die sie auf unsere Jugend ausüben, finden ihre Erklärung im Zerfall unserer grundlegenden herkömmlichen Glaubenswerte. Der Glauben an den Wert eines Bundes kann das ihm notwendige Feuer und Licht einzig und allein von einer überzeugenden Antwort auf die Frage: ,,Bündnis - zu welchem Zweck?" erhalten. Diese aber ist nicht so einfach, wie es den Anschein hat. Auf den ersten Blick erscheint unsere Antwort klar: wir schließen ein Bündnis, um nicht zugrundezugehen. Der Maßstab des gemeinschaftlichen Lebens auf unserem Planeten hat sich verändert. Früher war es die Nation. Jetzt ist es der Kontinent. Und so lautet unsere Antwort: verbündet euch oder sterbt. Ein Zweifel jedoch liegt hier im Hinterhalt: Voltaire hat ihn in seiner wohlbekannten Anekdote unsterblich gemacht, mit der Antwort, die er einem giftgeschwollenen Winkelschreiber gab, als dieser sich für seine skurrilen Angriffe mit den Worten entschuldigte: "IL FAUT BIEN VIVRE, MONSIEUR."; worauf Voltaire entgegnete: "JE N'EN VOIS PAS LA NECESSITE."
Die Welt muß das Fortleben Europas als wichtig empfinden - das ist ein zwingendes Gebot. Daher muß unser Glauben seine Grundlage in etwas finden, das über die Markt- und sogar die Verteidigungsgemeinschaft hinausreicht. Und so kehren wir wieder zu den beiden geistigen Flüssen zurück, aus deren Vereinigung Europa geboren wurde. Doch eben hier droht ein gefährliches Paradoxon. Wir wollen einen europäischen Staat gründen und wir gehen an einem Vielzuviel an Staat zugrunde. Wie reimt sich das? Wir müssen unserer Jugend das Bewußtsein persönlicher Verantwortung für das persönliche Schicksal einimpfen. Wir müssen Mittel ersinnen, um eine solche Einstellung zu fördern. Zum Beispiel sollte eine jede neue Generation zu einem entsprechenden Zeitpunkt feierlich in die Gemeinschaft europäischer Bürger aufgenommen werden. Während der Feier sollte ein jeder der jungen Menschen ein Exemplar des Buches erhalten, das Platos Beschreibung von Sokrates' Tod wiedergibt sowie die Kreuzigung Christi, wie sie in den Evangelien steht. Nicht nur weil sie die beiden geistigen Väter Europas sind, sondern weil der Staat die Schuld an ihrem Tode trägt.
Auch sollten wir unsere europäische Fahne neu gestalten. Die gegenwärtige - ein Kreis aus zwölf Sternen - hat keine eigentliche Bedeutung. Weder ist zwölf die Zahl unserer europäischen Nationen noch der Kreis ein hier gültiges Symbol. Ich schlage vor, daß wir den blauen Hintergrund und die goldenen Sterne beibehalten; jedoch sollten diese letzteren, ein jeder an der Stelle eingezeichnet werden, wo sich auf der Landkarte die europäischen Hauptstädte befinden, ohne jedoch die geographischen Umrisse wiederzugeben: so daß die Sterne zu symbolischen Vertretern der Nationen würden, deren Grenzen verschwunden sind. Diese Fahne hätte eine Bedeutung. Sie wäre eine Konstellation mit ihrem eigenen, besonderen Charakter. Nichts würde uns daran hindern, die Zahl der Sterne auf die gegenwärtigen Mitglieder zu begrenzen. Neue Sterne kämen dann jeweils bei Eintritt neuer Mitglieder in den Bund hinzu. Und so, mit jedem Schritt nach vorwärts, in der Richtung unseres Zieles, würden wir auf der Fahne Europas einen neuen Stern in ihrem blauen Firmament aufleuchten sehen.