Als mir vor einigen Wochen Herr Oberbürgermeister Heusch den Beschluß des Direktoriums des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen mitteilte, den diesjährigen Karlspreis unserer Kommission in ihrer Gesamtheit zu verleihen, wurden meine Kollegen und ich von einer tiefen Rührung ergriffen, die durch die Feierstunde, die wir in diesem Augenblick in diesem herrlichen historischen Bau erleben dürfen, noch verstärkt wird.
Ist diese Rührung doch durchaus verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was die jahrhundertealte Tradition Aachens, Hochburg des europäischen Glaubens, und der Karlspreis, der bis heute so vielen illustren Vorkämpfern und Pionieren unseres Kontinents verliehen worden ist, bedeuten. Für uns ist damit aber noch mehr verbunden, wenn wir feststellen dürfen, daß die ausdauernden und unerschütterlichen Bemühungen unseres Kollegiums in einer schwierigen Zeit der europäischen Aufbauarbeit bei jenen Unterstützung und Förderung finden, die die entschiedensten Verfechter unseres europäischen Ideals sind.
Ihre Ehrung, meine Herren, gilt unserem Kollegium. Unsere Erwiderung soll daher auch kollegial sein. Unsere Kommission hat zwei ihrer Mitglieder, Herrn Jean-François Deniau und mich selbst, beauftragt, in dieser Feierstunde das Wort zu ergreifen, während sie ihren Vizepräsidenten, Herrn Fritz Hellwig, gebeten hat, zu einem anderen Zeitpunkt dieses Tages ihr Sprecher zu sein.
Gerne hätte ich mich an Sie in allen Sprachen der Gemeinschaft gewendet. Dies würde jedoch den Rahmen dieses Festakts sprengen.
Tuttavia, desidero salutare nella loro madrelingua i rappresentanti degli Stati membri di lingua italiana e olandese, per sottolineare che la Comunità Europea deve concepirsi al di là delle differenze di lingua e di origine di coloro che la costruiscono.
Ik wil evenwel de Nederlands- en de Italiaansprekende vertegenwoordigers van de lid-staten in hun taal begroeten om aan te tonen dat de Europeese Gemeenschap de verschillen in taal en oorsprong van hen die bij de opbouw ervan zijn betrokken, weet to overbruggen.
Pour le surplus, étant donné que mon ami Deniau s?exprime en français, j?utiliserai la langue allemande qui est assurément celle la plus familière à la grande majorité de cet auditoire.
Wir wissen, Herr Oberbürgermeister, und ich möchte dies betonen, daß die uns zuteil gewordene Ehrung nicht allein unserer seit dem 1. Juli 1967 vereinheitlichten Kommission gilt, sondern zweifellos auch unseren Vorgängern, deren Werk fortzusetzen heute unsere Aufgabe ist. Wir denken zunächst an die Hohe Behörde der Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die mit ihren Präsidenten Jean Monnet, René Mayer, Paul Finet, Pietro Malvestiti und Dino del Bo das erste - um einen Ausdruck des Vertrags von Paris zu gebrauchen - überstaatliche Exekutivorgan war und die zum ersten Mal jene bis dahin in Europa beispiellosen Befugnisse und Aufgaben wahrzunehmen hatte und die erste gemeinschaftliche Exekutive darstellte. Wir denken sodann an die Kommission von Euratom, die nacheinander von Louis Armand, Etienne Hirsch und Pierre Chatenet geleitet wurde und die eines der ersten großen Zentren für technologische und Nuklearforschung in Europa ins Leben rief. Wir denken schließlich an die Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, an deren Spitze zehn Jahre lang Professor Hallstein stand und die jenes gewaltige Werk des Aufbaus einer gemeinsamen Politik begonnen hat, das jetzt im Mittelpunkt unserer heutigen Arbeit steht. Ich habe Ihnen nur die Namen der Präsidenten genannt: in Wirklichkeit hätte ich die Namen aller Mitglieder dieser drei Kollegien nennen müssen, von denen mehrere als frühere Angehörige einer dieser drei Exekutiven heute Mitglied unserer gemeinsamen Kommission sind. Ich bin überzeugt, daß Sie mit der Auszeichnung, die Sie heute vergeben, diese gewaltige politische, wirtschaftliche und soziale Aufbauarbeit, die nahezu zwanzig Jahre in Anspruch genommen hat, ehren wollten.
Nicht weniger beeindruckt hat uns der Zeitpunkt, den Sie hierfür gewählt haben. Denn unsere Arbeit während dieser zwei Jahre ist nicht leicht gewesen. Keine Sorge ist uns dabei erspart geblieben: weder die Schwierigkeiten der Verschmelzung dreier verschiedener Verwaltungen, die es zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufassen galt, noch die Schwierigkeiten, den kreativen Dynamismus einer zahlenmäßig angewachsenen und technisch schwerfälliger gewordenen Institution zu wahren, wo die Vielschichtigkeit der Probleme wie auch die Häufung der Sitzungen und die Flut der Dokumente unaufhörlich zunehmen, noch die schwerwiegenden politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Regierungen unserer Mitgliedstaaten, die auch heute noch nicht ausgeräumt sind und die unsere Arbeit erheblich erschwert, das Tempo der Weiterentwicklung der Gemeinschaft verlangsamt und das politische Klima in Europa belastet haben.
Und doch: wie viele Etappen haben wir in dieser Zeit zurückgelegt, wie viele Schritte nach vorn getan! Ich könnte sie nicht alle aufzählen, ohne meine Ausführungen über Gebühr auszudehnen. Die genaue Bilanz haben wir in unserem vor zwei Monaten erschienenen Jahresbericht gezogen: Vollendung der Zollunion, Errichtung der wichtigsten Agrarmarktorganisationen, Verabschiedung von Verordnungen zur Zoll- und Handelspolitik, Fortschritte in der Steuerharmonisierung, Fortschritte in der gemeinsamen Verkehrspolitik, Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft, Unterzeichnung der Abkommen von Tunis und Rabat, Verhandlungen mit Jugoslawien, Neuaushandlung des Abkommens von Jaunde, Ausarbeitung der großen Programme zur Agrarstrukturreform, zur technologischen und Nuklearpolitik, zur Energiepolitik, zur Regionalpolitik und zur Stärkung der wirtschaftlichen und währungspolitischen Solidarität. All diese Leistungen und Bemühungen sind ein Beweis dafür, daß ungeachtet aller Schwierigkeiten und Krisen der Aufbau Europas weitergeht und daß die Kräfte, die auf seine Vereinigung hinwirken, in Wirklichkeit weit stärker sind als alle Gegenkräfte.
Über alle Unterschiede in den Methoden und in der Konzeption hinaus ist die Stärkung und der Fortschritt der Gemeinschaft allen Mitgliedstaaten ein Anliegen. Hierauf kommt es letztlich an. Und da ich heute zu Gast in der Bundesrepublik Deutschland weile, wird es sicherlich jeder Recht finden, wenn ich diese Gelegenheit benutze, um den Vertretern der Bundesregierung zu sagen, wie sehr wir ihren weitsichtigen und realistischen Beitrag zu den Fortschritten der Gemeinschaft - in ihren inneren und ihren äußeren Beziehungen - zu würdigen wissen.
Ich möchte Ihnen aber jetzt sagen, wie glücklich wir uns schätzen, daß ihre Wahl dieses Jahr nicht auf eine Einzelperson, sondern auf eine Institution gefallen ist, und daß Sie dabei an unsere Kommission als Kollegium gedacht haben. Denn hierin liegt die unseres Erachtens bemerkenswerte und einmalige Bedeutung ihres Beschlusses.
Denn wenn unsere Gemeinschaften etwas Originelles und Wesentliches aufzuweisen haben, dann ist es ihr institutioneller Aufbau.
Es ist kein Zufall, daß die Verfasser der Verträge von Paris und Rom, als sie ihr großes Unternehmen tauften, den Begriff, "Gemeinschaft" gewählt haben. Eine Gemeinschaft besteht aus zwei Elementen, einem geistigen und einem institutionellen Element. Das geistige Element ist ein gemeinsamer Glaube. Für uns ist dies unser Glaube an die Versöhnung der europäischen Völker, an den Verfall des Nationalismus und an die Errichtung eines geeinten, unabhängigen, offenen und großzügigen europäischen Kontinents.
Das institutionelle Element ist die tragende Konstruktion. Keine Konstruktion, die an die Stelle der gestrigen und heutigen Nationen eine irgendwie geartete einzige europäische Zentralgewalt setzen will. Genausowenig aber handelt es sich um eine bloße Vereinigung souveräner Staaten, wie es ihrer so viele in der Welt gibt. Ausgangspunkt war die Idee, daß die Institutionen der Gemeinschaft echte, wenn auch begrenzte Befugnisse haben müssen, mit denen sie sich gegenüber den Mitgliedstaaten durchzusetzen vermögen. Ihre Konstruktion beruht auf einem ständigen Dialog - Keimzelle einer künftigen Bundesverfassung - zwischen den die Mitgliedstaaten vertretenden Regierungen auf der einen Seite und den die Gemeinschaft vertretenden Gemeinschaftsorganen auf der anderen Seite.
Diesem institutionellen Mechanismus ist die schöpferische Stärke unserer Gemeinschaften zu verdanken. Vergleicht man diese mit den anderen europäischen Organisationen wie OECD, Europarat, WEU oder Benelux, die auf anderen Gebieten so hervorragende Dienste geleistet haben, so fällt auf, daß es unseren Gemeinschaften als einzigen gelang, gemeinsame Politiken zuwege zu bringen, weil sie die institutionellen Mittel hierfür besaßen. Es ist dies keine Frage der Männer, sondern eine Frage der Machtbefugnisse, da den gleichen Männern, die in anderen Rahmen keine gemeinsame Politik zustande brachten, dies im Rahmen der Gemeinschaft gelungen ist, einfach, weil ihnen hier die Möglichkeit dazu geboten wurde.
Es ist daher nicht verwunderlich, wenn unsere Kommission eifersüchtig über die Erhaltung der Befugnisse der Gemeinschaftsorgane wacht. Von einer Stärkung der Gemeinschaft zu sprechen, wäre in ihren Augen sinnlos, wenn gleichzeitig versucht würde, ihre Organe zu schwächen. Ganz im Gegenteil: die normale Entwicklung der Gemeinschaft führt zu einer schrittweisen Stärkung ihrer Institutionen, und das war es, was wir in unserer Erklärung vom 1. Juli 1968 zum Ausdruck bringen wollten, als wir uns für eine Stärkung der Befugnisse der Kommission, für den Fortfall des Vetos, für Mehrheitsbeschlüsse und für allgemeine Wahlen zum Europäischen Parlament eingesetzt haben.
Indem Sie unserem Kollegium als solchem den Karlspreis 1969 verleihen, haben Sie vor der europäischen und vor der Weltöffentlichkeit ein klares Bekenntnis zu der wesentlichen Rolle abgelegt, die unsere Kommission im Leben der Gemeinschaft zu spielen hat. Dank sei Ihnen, meine Herren, für diese unschätzbare Ermutigung.
An diesem feierlichen Tag, der sich weder für die Ankündigung eines Arbeitsprogramms noch für eine ausführliche Erörterung über die nächsten Etappen und über die Mittel eignet, möchte ich zum Abschluß einfach unsere Grundüberzeugungen wiederholen.
- Wir glauben, daß Europa nur dort stark ist, wo es einig ist. Europa kann sich nur auf die gleiche Stufe mit den Großen und insbesondere mit den
Vereinigten Staaten stellen, wo es integriert ist und, wie in der gemeinsamen Agrar- und Zollpolitik, geschlossen auftritt. Daraus ergibt sich die Forderung nach einer beschleunigten Verwirklichung der gemeinsamen Politik in anderen Bereichen und nach einer raschen Stärkung der wirtschaftlichen und währungspolitischen Solidarität, wie schließlich auch die politische Union ernsthaft vorangetrieben werden muß.
- Wir glauben, daß die Gemeinschaft ein wesentlicher Faktor der Einigung Europas ist, daß sie aber nur einen Teil Europas repräsentiert. Wir glauben daher, daß es an der Zeit ist, an eine Erweiterung der gegenwärtigen, in der Fusion befindlichen Gemeinschaft zu denken und Mittel und Wege zu finden, um nacheinander und etappenweise die übrigen europäischen Länder aufzunehmen.
- Wir glauben, daß die Gemeinschaft in ihrer heutigen Gestalt bereits die erste Handelsmacht der Welt ist und daß sie daher eine offene und großzügige Politik gegenüber den Entwicklungsländern im allgemeinen und den mit ihr assoziierten afrikanischen Staaten und Madagaskar im besonderen führen muß.
- Wir glauben, daß Europa nach zwei Weltkriegen, die in Wirklichkeit aus dem Aufeinanderprallen der europäischen Nationalismen entstandene europäische Bürgerkriege waren, das Zeichen zum Aufbruch zu einer neuen kontinentalen Ordnung der Welt gegeben hat und daß es zu seinen Aufgaben gehört, darüber zu wachen, daß sich die Irrungen des Nationalismus von gestern nicht auf kontinentaler Ebene wiederholen. Deshalb messen wir unserer Zusammenarbeit mit den anderen Kontinenten und in erster Linie mit unserem großen amerikanischen Partner, mit dem wir soviel Verantwortung für das Gleichgewicht und den Fortschritt der freien Welt teilen, so große Bedeutung bei. Und aus dem gleichen Grunde setzen wir uns heute wie morgen unermüdlich dafür ein, einen Dialog und, wenn möglich, eine Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Ländern wie auch mit allen anderen Kontinenten zustande zu bringen.
Die Ideen regieren die Welt. Die großen Fortschritte der Menschheitsgeschichte waren zuerst das Werk einiger Denker, die den Mut hatten, die Legitimität der Ideen und Institutionen ihrer Zeit anzuzweifeln. Die politische Demokratie wurde im 18. Jahrhundert geboren, als Denker die Rechtmäßigkeit der Institutionen des Ancien Regime anfochten und eine große geistige Auseinandersetzung auslösten, die schließlich mit den himmelschreienden Mißbräuchen und den politischen Privilegien der Vergangenheit aufräumte. Die soziale Demokratie wurde im 19. Jahrhundert geboren, als Soziologen die Legitimität der damaligen Wirtschafts- und Sozialordnung angriffen, die zu unmenschlichen sozialen Zuständen geführt hatte. Die europäische Demokratie wurde im 20. Jahrhundert geboren, als die Bahnbrecher Europas die Legitimität der gestrigen nationalistischen Ordnungen angriffen, die unsere Völker gegeneinander aufgehetzt und unseren Kontinent mit Blut getränkt und in Schutt und Asche gelegt haben.
Ja, die Bewegung ist ausgelöst, und nichts wird sie mehr aufhalten. Wenn unsere Generation auch nur einen Teil der Aufgabe erfüllen können wird, so obliegt es den nach uns Kommenden, sie fortzuführen. Aber ich bin überzeugt, daß das Jahr 1950, das Jahr der Schuman-Erklärung, eines Tages als eines der großen Daten der Weltgeschichte wie die Reformation von 1517, die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 oder die Französische Revolution von 1789 anerkannt wird. Eines Tages werden die Namen der großen Europäer unserer Zeit - Robert Schuman, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer - von der Nachwelt verehrt werden wie heute in den Vereinigten Staaten die Namen von George Washington, Thomas Jefferson und Abraham Lincoln. Eines Tages werden unsere Nachkommen Wallfahrten zum Robert Schuman-Haus in Sey - Chazelle in Lothringen unternehmen wie die jungen Amerikaner heute nach Mount Vernon an den Ufern des Potomac pilgern, und die Versöhnung der Völker und die Geburt des europäischen Kontinents werden nach einem Jahrtausend brudermörderischer Kämpfe in ihrem vollem Licht als eines der großen Ereignisse der Weltgeschichte erstrahlen.