Der heutige Tag, der 8. Mai 1986, ist ein Tag der Erinnerung. Vor 41 Jahren am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Wir haben dieses Ereignisses im vergangenen Jahr ausführlich gedacht. Ich will das damals Gesagte nicht wiederholen.
5 Jahre später, gleichfalls am 8. Mai, begann die wichtigste, folgenreichste und fruchtbarste politische Phase der Nachkriegszeit, die Einigung Europas in der Europäischen Gemeinschaft. An diesem Tag nämlich erhielt Bundeskanzler Konrad Adenauer den Brief des französischen Außenministers Robert Schuman, mit dem dieser die Bildung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorschlug. Adenauer antwortete noch am gleichen Tage. "Ich begrüße", so sagte er, "die in Ihrem Schreiben entwickelten Gedanken als einen entscheidenden Schritt zu einer engen Verbindung Deutschlands mit Frankreich und damit zu einer neuen, auf der Grundlage friedlicher Zusammenarbeit aufgebauten Ordnung in Europa". Der 8. Mai 1950 markiert also eine historische Stunde in der europäischen Geschichte.
Heute, am 8. Mai 1986, haben wir uns nun hier im Alten Rathaus zu Aachen versammelt, um ein freudiges Ereignis zu begehen. Ich möchte aus diesem Anlaß einen dreifachen Glückwunsch richten:
an die Stadt Aachen
an den Preisträger, das luxemburgische Volk,
und an Sie, königliche Hoheit, Großherzog Jean, der Sie den Preis für Ihr Volk entgegennehmen werden.
Aachen ist nicht nur eine ehrwürdige, 2000 Jahre alte Stadt, Residenz der Römer, Residenz Karls des Großen, der von hier aus in einem Gebiet herrschte, das sich über sieben der heutigen zwölf EG-Staaten erstreckte. Aachen war Krönungsstadt der deutschen Kaiser und Könige. Aber Aachen ist nicht nur ehrwürdig, es ist auch eine überaus moderne, lebendige, geistvolle Stadt. Vor 100 Jahren wurde hier Ludwig Mies van der Rohe, einer der bedeutendsten Architekten unseres Jahrhunderts geboren. Herbert von Karajans kometenhafter Aufstieg nahm hier vor 50 Jahren seinen Anfang.
Durch die Stiftung des Karlspreises im Jahre 1949, der heute zum 27. Mal verliehen wird, setzte Aachen ein weithin sichtbares Zeichen, indem es die Aufmerksamkeit der Welt auf die Notwendigkeit der europäischen Einigung lenkte. Wenig später stiftete Aachen einen anderen Orden, der es gleichfalls zu internationaler Berühmtheit gebracht hat, den "Orden wider den tierischen Ernst", mit dem Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ausgezeichnet werden, deren Sinn für Humor die Aachener beeindruckt.
Auch mit der heutigen Preisverleihung beweisen die Aachener, daß sie nicht in festgefahrenen Bahnen denken, daß es ihnen nicht an Phantasie mangelt. Anstelle – wie bisher – wieder eine einzelne Persönlichkeit oder eine Institution für ihre europäischen Verdienste auszuzeichnen, haben sie ein ganzes Volk zum Preisträger erkoren, wie ich finde, eine glänzende Idee, zu der ich Aachen beglückwünschen möchte.
Es ist das luxemburgische Volk mit 365 000 Menschen, das kleinste unter den Völkern der Europäischen Gemeinschaft, ein friedliches, bodenständiges Volk zwischen Mosel und Sauer, ein in Europa, ja in der Welt wegen seiner in Jahrhunderten bewährten Eigenschaften beliebtes Volk, ein Volk, das sich große Verdienste um die Einigung Europas erworben hat.
Über 1000 Jahre reicht seine Geschichte zurück, über 1000 Jahre hat es sich seine Sprache, eine fränkische Mundart, die der Sprache Karls des Großen sehr ähnlich sein soll, bewahrt. Im Mittelalter, im 14. Jahrhundert, stellten die Luxemburger 4 deutsche Kaiser und Könige, darunter Heinrich VII., dessen Tapferkeit, Weisheit und Tugend Dante besungen hat, und seinen Enkel Karl IV., der über 40 Jahre in Böhmen und im Heiligen Römischen Reich regierte, eine der bedeutenden Herrschergestalten des ausgehenden Mittelalters. Er zeigte viele der Eigenschaften, die wir auch noch heute an den Luxemburgern schätzen.
Nicht nur durch Kriege, sondern durch eine kluge Diplomatie suchte er seinen Einfluß zu mehren. Dabei zeichnete ihn staatsmännische Nüchternheit aus. Er förderte in vorbildlicher Weise Wissenschaft und Kunst. Er selbst sprach fünf Sprachen. Mit Petrarca stand er im Briefwechsel. Er begründete die erste deutsche Universität in Prag, die bald zehntausend Studenten hatte, und er verkündete 1356 die vom Reichstag beschlossenen Goldene Bulle, das Staatsgrundgesetz des Reiches während der folgenden Jahrhunderte. Ich muß es mir leider versagen, die Einzelheiten dieses hochbedeutenden Gesetzes hier vorzutragen, so reizvoll dies wäre. Aber ich möchte doch eine Bestimmung erwähnen, weil sie vielleicht eine gewisse Aktualität hat. Bekanntlich wählten damals die sieben Kurfürsten den deutschen König. Wenn sie aber binnen 30 Tagen keinen König gewählt hatten, dann mußten sie so lange bei Wasser und Brot fasten, bis eine Wahl zustandegekommen war. Vielleicht könnte man heute für den Agrarministerrat der Europäischen Gemeinschaft eine ähnliche Regelung einführen. Ich bin sicher, daß sie eine Beschleunigung der Beratungen bewirken würde.
In den folgenden Jahrhunderten gingen die europäischen Kriege über das luxemburgische Volk hinweg. Es gehörte nacheinander zu Burgund, Spanien, Österreich und Frankreich. 1815 auf dem Wiener Kongreß erlangte Luxemburg wieder staatliche Selbständigkeit. Es wurde Großherzogtum, Mitglied des Deutschen Bundes in Personalunion mit dem Königreich der Niederlande. Nach der Auflösung des Deutschen Bundes garantierten die Großmächte im Londoner Vertrag 1867 Luxemburgs Neutralität. Trotzdem wurde Luxemburg während der beiden Weltkriege von deutschen Truppen besetzt. Vor allem der Zweite Weltkrieg schlug dem Land Wunden, die bis heute nicht vernarbt sind.
Schon in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts begann Luxemburg, eine geachtete Rolle in der europäischen Politik zu spielen. Unter der klugen Führung seines Ministerpräsidenten Dr. Joseph Bech nahm es an den Verhandlungen über die Gründung des Völkerbundes und an der Konferenz von Locarno teil.
Ich bin Bech nach dem Zweiten Weltkrieg oft begegnet und werde nie vergessen, wie er von Locarno erzählte. Wie die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich, repräsentiert durch Stresemann und Briand in greifbare Nähe gerückt schien und die Einigung Europas, die Vereinigten Staaten von Europa am Horizont sichtbar wurden. Wir alle wissen, daß diese Hoffnungen zuschanden wurden. Aber sie blieben in den Köpfen und Herzen der Zeitgenossen lebendig und bildeten die Grundlage, aus der nach 1945 das einige Europa, aus der die Europäische Gemeinschaft erwuchs. In diesen Verhandlungen spielte Luxemburg von Anfang an eine bedeutende Rolle. Die Luxemburger waren überzeugte Europäer der ersten Stunde. Sie, die unter den europäischen Kriegen Jahrhunderte lang gelitten hatten, erkannten, daß nur eine Einigung Europas den Frieden sichern konnte, und sie waren davon überzeugt, daß die europäische Einigung die Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland voraussetzte. Dazu leisteten luxemburgische Staatsmänner einen wichtigen Beitrag. Der gesunde Menschenverstand der luxemburgischen Unterhändler, gepaart mit dem Engagement für das hohe Ziel der Einigung, hat oft den kritischen Phasen der Verhandlungen geholfen, eine Lösung zu finden. Wieder war es Josef Bech, der sein Land vertrat. Mit Adenauer verband ihn eine aufrichtige Freundschaft. Beide Männer vertrauten einander. Joseph Bech erhielt 1960 den Karlspreis.
Die Rolle, die Luxemburg in den Verhandlungen gespielt hatte, schlug sich in seinem Anteil an den europäischen Institutionen sichtbar nieder. Es wurde Sitz des Europäischen Gerichtshofs, des Europäischen Rechnungshofs, der Investitionsbank der EG und des Sekretariats des Europäischen Parlaments. Mein Freund Christian Calmes wurde der erste Generalsekretär des Ministerrats. Ein anderer guter Freund, Pierre Pescatore, wurde Mitglied des Europäischen Gerichtshofs, er bekleidete dieses Amt 18 Jahre.
Im Rat der EG entfallen heute auf Luxemburg zwei Stimmen, und je 10 Stimmen auf Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien. Das bedeutet rein rechnerisch, daß 365 000 Luxemburger ein ebenso großes Stimmgewicht haben wie 12 Millionen Deutsche oder 10 Millionen Franzosen. Ich sage das ohne jede Kritik. Ich selbst hatte 5 Jahre Land die Ehre, das kleinste deutsche Bundesland Bremen in Bonn zu vertreten. Bei den Abstimmungen im Bundesrat ist das Verhältnis zwischen den bremischen und den nordrhein-westfälischen Stimmen, gemessen an der Einwohnerzahl beider Länder, ähnlich.
In jeder Föderation müssen die Stimmgewichte so verteilt sein, daß die kleineren Gliedstaaten zu ihrem Recht kommen. Aber niemand wird bestreiten, daß die jetzt getroffene Regelung in der EG auch dem Verhandlungsgeschick der Luxemburger zu danken ist.
Alle sechs Jahre führt der luxemburgische Ministerpräsident den Vorsitz im Europäischen Rat. Wir alle erinnern uns an die großen Beiträge, die luxemburgische Staatsmänner für den Fortgang der Europäischen Gemeinschaft geleistet haben, Ministerpräsident Pierre Werner und an den Präsidenten der Kommission, Gaston Thorn.
Aber auch abgesehen von seiner Rolle in den Institutionen der Europäischen Gemeinschaft hat das luxemburgische Volk eine weit über seine Größte hinausgehende überproportionale Bedeutung erlangt. 118 Banken mit einer Bilanzsumme von 360 Milliarden DM haben ihren Sitz in Luxemburg. Davon 29 Filialen deutscher Banken. Luxemburg ist nach London und Paris der größte Markt für Euro-Geldgeschäfte in Europa. Rundfunk und Fernsehen strahlen von Luxemburg weit in den benachbarten Raum, auch weit nach Deutschland hinein. Im Land selbst herrscht ein gutes soziales Klima. Streiks sind selten, die Arbeitslosigkeit liegt bei 1,5 Prozent. Gewiß hat das Land auch wirtschaftliche Sorgen, vor allem wegen der in der ganzen Welt rückläufigen Stahlproduktion.
Aber aufs Ganze gesehen steht Luxemburg sehr gut da, können die Luxemburger auf das von ihnen Geleistete stolz sein. Friedfertigkeit und Vernunft, gepaart mit einer gewissen Portion an liebenswerter Schlauheit, sind die Eigenschaften, die das luxemburgische Volk zu diesen außerordentlichen Leistungen befähigen. Mit uns Deutschen sind die Beziehungen im Laufe der letzten Jahrzehnte enger und freundschaftlicher geworden. Ein reger Wirtschaftsaustausch und ein bedeutender kultureller Austausch verbindet beide Völker. Ich beglückwünsche das luxemburgische Volk zu der Verleihung des Karlspreises. Es hat einen historischen Beitrag zur Einigung Europas, zur Versöhnung der Völker und zum Frieden geleistet.
Ein dritter Glückwunsch gilt Ihnen, Königliche Hoheit, Großherzog Jean. Sie genießen, ebenso wie Ihre Frau Gemahlin, die Großherzogin Josephine Charlotte, die Achtung und Liebe Ihres Volkes. Seit 22 Jahren sind Sie das luxemburgische Staatsoberhaupt als Nachfolger Ihrer unvergessenen Frau Mutter, der Großherzogin Charlotte, die während des Krieges die Freiheit Luxemburgs symbolisierte und in deren Namen nach dem Kriege die Verträge für Luxemburg abgeschlossen wurden, die die neue europäische Ordnung begründeten. Sie, Großherzog Jean, haben in den Jahren Ihrer Regentschaft an der bewundernswerten Entwicklung des Großherzogtums teilgenommen. Sie persönlich haben daran einen großen Anteil, und Ihnen gebührt daher nicht nur der Dank Ihres Volkes, sondern auch seiner Nachbarländer, insonderheit von uns Deutschen. Ihr Staatsbesuch in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1977 ist unvergessen, ebenso wie meine Frau und ich uns dankbar des Besuches erinnern, den Sie und Ihre Königliche Hoheit, die Großherzogin, uns im Jahre 1983 abgestattet haben. Bei Ihrer Ansprache in Bonn am 28. Februar 1977 sagten Sie, daß Ihr Besuch als Zeichen des Verständnisses und des Vertrauens gewertet werden möge, die jetzt den Beziehungen zwischen Luxemburg und der Bundesrepublik Deutschland zugrunde lägen. In dem gleichen Sinne wollen wir auch die heutige Preisverleihung verstanden wissen.
Ich beglückwünsche Sie zu dem heutigen Ereignis, ja mehr noch, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer 22-jährigen Regierungszeit und wünsche Ihnen, daß Gott Ihnen die Kraft schenken möge, noch lange an der Spitze Ihres Volkes zu stehen, ihm in Weisheit und Liebe verbunden zu sein.