Vielen Dank der Stadt Aachen für den Preis, der die komplizierte Geschichte und die stolze Gegenwart meines Landes anerkennt und uns alle dazu bringt, die gemeinsame Zukunft Europas zu gestalten.
Ich danke dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Martin Schulz, für seine freundlichen Worte und möchte meiner festen Überzeugung Ausdruck verleihen, dass das Europäische Parlament bei der Weiterentwicklung des Europabildes und des europäischen Alltagslebens eine ganz besondere und bedeutsame Rolle spielt.
Die deutsche Stadt Aachen war der Mittelpunkt des von Karl dem Großen geschaffenen Reiches. Nach dem Zusammenbruch des römischen Imperiums war Europa zerrissen, im Chaos und tief in einer finsteren Zeit versunken. Die Anstrengungen Karls des Großen, Europa zu einigen, trugen zur Entwicklung des Kontinents und seiner gemeinsamen Zukunft bei. Später gab es noch viele weitere derartige Bemühungen, doch stets mit Gewalt. Die Europäische Union ist der erste Versuch, Europa freiwillig zu einen.
Freiwilligkeit bedeutet, Verantwortung zu übernehmen und die Zukunft mit eigenen Händen aufzubauen.
Als die europäischen Gründerväter – Schuman, Monnet, Adenauer und andere – mit dem Aufbau der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Montanunion, begannen, mussten sie grenzüberschreitend Konflikte, Differenzen und Ambitionen überwinden. Ihre Entscheidung war ein Akt des starken politischen Willens. Die damaligen führenden Politiker Europas einte die Erkenntnis, dass sie Verantwortung übernehmen und unverzüglich handeln mussten, ohne bedeutsame Entscheidungen zu verzögern.
Diese Handlungsverantwortung ist der Kern des gesamten europäischen Projekts.
Es ist wie ein Baum, aus dem viele Äste hervorsprießen – verantwortungsvolle Finanzwirtschaft, Sozial-, Umwelt-, Energie- und Handelspolitik sowie Solidarität und tiefere europäische Integration.
Die entscheidende Lehre, die wir von den Architekten Europas und all jenen übernehmen müssen, die sich für den Erfolg der Europäischen Union eingesetzt haben, lautet, dass Europa heute mehr denn je den politischen Willen zu verantwortungsbewussten Entscheidungen braucht. Keine Aufgabe kann angegangen werden, ohne Verantwortung zu übernehmen. Das gilt für alle – für Führungspersönlichkeiten wie für ganz gewöhnliche Europäer.
Vor nicht allzu langer Zeit mussten wir in Litauen für unser Recht auf Unabhängigkeit, Freiheit und eine eigene Zukunft kämpfen. Das litauische Volk weiß sehr wohl, dass die Europäische Union einem „nicht geschenkt“ wird. Für sie und einen Platz in ihr muss gekämpft werden. Und es erfordert einiges an Einsatz, für die Union als Lebensvision und Alltagsrealität einzutreten. Vor 23 Jahren stellten Litauer den stärksten denkbaren politischen Willen unter Beweis. Einen derartigen politischen Willen brauchen wir Europäer zum jetzigen Zeitpunkt.
Das Europa von heute braucht eine verantwortungsbewusste Finanzpolitik. Ihr Wesen ist sehr einfach zu formulieren: im Rahmen unserer finanziellen Mittel bleiben. Ja, solche Beschlüsse sind sehr schwierig und, noch einmal ja, sie sind manchmal schmerzhaft. Haushaltsausgleich, Bewältigung der Staatsschulden und der Inflation – das hört sich alles sehr fachlich an, aber wenn solche Maßnahmen nicht ergriffen werden, werden wir uns weiter vormachen, es gehe uns gut, auch wenn nur die Statistiken gut aussehen.
Um Litauen finanziell zu sanieren, mussten wir strikte Sparmaßnahmen einführen: Kürzungen der Staatsausgaben, Einschränkungen von Steuervorteilen und Freibeträgen und dergleichen. Die Menschen in Litauen können ein Lied davon singen, wie es ist, wenn man mit einem Rückgang des BIP von fast 15% zurechtkommen muss. Und das war die zweite schwere Wirtschaftskrise in gerade einem Jahrzehnt.
Das litauische Volk hat jedoch Verständnis und Geduld gezeigt.
Wir wussten – nur wir selbst können unsere Probleme lösen. Das Ergebnis ist offensichtlich: In diesem Jahr zählt die litauische Volkswirtschaft zu den am schnellsten wachsenden in Europa.
Sicherlich werden wir künftige wirtschaftliche Stürme nicht vermeiden können, aber wir können die Immunität unserer Finanzsysteme stärken und die negativen Auswirkungen minimieren.
Außerdem mag verantwortungsbewusstes Verhalten keine Wahlsiege ermöglichen, wird aber für nachhaltiges Wachstum sorgen.
Heute wird Europa ohne verantwortungsbewusste soziale Entscheidungen nicht weitermachen können. Litauen überstand die Weltwirtschaftskrise nicht nur durch Einführung der Finanzdisziplin, sondern auch auf dem Wege über einen gesellschaftlichen Konsens. Uns war sehr klar, dass Vereinbarungen mit Sozialpartnern zu einer schnelleren wirtschaftlichen Erholung führen und die nationale Stabilität sichern.
Die Finanzpolitik darf die am stärksten gefährdeten Menschen nicht ignorieren, wenn das Vertrauen der Bevölkerung erhalten bleiben soll. Heute hat eine ganze Generation – die jungen Menschen – Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden. Wir müssen ihnen wirkliche Chancen bieten, sich einzurichten, denn sie werden das Europa der Zukunft aufbauen. In zehn oder zwanzig Jahren werden sie in Europa am Ruder stehen.
Wir müssen schon heute investieren, damit Enttäuschung nicht zum Leitprinzip für Europa wird.
Darum müssen die Sozial- und Beschäftigungspolitik sowie Strukturreformen und Konjunkturpakete Hand in Hand gehen. Litauen kann dazu sagen: Es funktioniert.
Auch in anderen Bereichen sind verantwortungsbewusste Entscheidungen erforderlich. Dazu nur zwei Beispiele: Ein gemeinsames europäisches Vorgehen auf dem Energie- oder Digitalmarkt kann mehr zu Wirtschaftswachstum und sozialem Wohlergehen beitragen, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Die Digitaltechnologien werden in den nächsten beiden Jahren rund eine Million neue Arbeitsplätze schaffen.
Die gemeinsame, verantwortungsbewusste Politik Europas mit dem Ziel einer Diversifizierung der inländischen Energieressourcen und der Energieversorgung aus dem Ausland würde nicht nur die Energiepreise senken, sondern auch das richtige Gleichgewicht zwischen Umwelt- und Energieinvestitionen herstellen. Das sind schwierige Entscheidungen, doch solche schwierigen Entscheidungen haben Europa zu dem gemacht, was es heute darstellt.
Europa muss heute gemeinsam vorgehen. Das europäische Handeln erwächst aus der Solidarität. Wir können das Vertrauen der Europäer in Europa nur wiederherstellen, wenn wir die Last der wirtschaftlichen Schwierigkeiten gemeinsam tragen. Solidarität heißt allerdings auch, dass wir sowohl gemeinsam entscheiden als auch gemeinsam danach handeln.
Bedauerlicherweise werden heute mehr Beschlüsse gefasst als umgesetzt. Dennoch wollen wir immer mehr in dieser Richtung sehen, auch wenn wir nichts über die Ergebnisse oder die zusätzliche Wertschöpfung für die Europäer wissen. Verantwortungsvolle europäische Entscheidungen, wie wir sie heute brauchen, bedeuten allerdings nicht, dass „Brüssel uns die gesamte Arbeit abnimmt“.
Die nationalen politischen Maßnahmen, unsere „Hausarbeiten“ zur Lösung struktureller wirtschaftlicher oder banktechnischer Probleme, müssen zuerst einmal in die direkte Verantwortung von Politikern der Mitgliedstaaten fallen. Schließlich ist die im eigenen Land geleistete Arbeit, wie hart und schmerzlich sie auch sein mag, der Beitrag aller Menschen dort zur europäischen Solidarität und zum effektiven gemeinsamen Handeln.
Lassen Sie mich noch einmal zum politischen Willen zurückkommen. Ohne diesen Willen wird es weder Solidarität noch die erstrebten Ergebnisse geben.
An dieser Stelle möchte ich den bedeutsamen Beitrag Deutschlands und des deutschen Volkes zu dem Zeitpunkt hervorheben, als sie bei der Suche nach den erforderlichen Entscheidungen auf europäischer Ebene die Führung übernahmen. Das ist eine historische Rolle, ein wirkliches Beispiel für verantwortungsbewusste Politik.
Heute hat Deutschland bei der Sicherung der europäischen Stabilität die Führungsrolle inne und gestattet es uns nicht, von dem Pfad des Vertrauens in Europa abzuweichen. Deshalb erntet Deutschland die schärfste Kritik – und verdient unseren größten Respekt.
Gemeinsames, verantwortungsvolles Handeln hat stets Vorteile erbracht. Gemeinsames Vorgehen ist macht Europa stark. Es ist außerdem der Kern der Integration.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir an den Vorzügen einer verantwortungsbewussten Integration keine Zweifel äußern können. Hierin liegt für uns als Politiker und Führungsverantwortliche unsere Aufgabe: Überwindung der Zukunftsangst durch das Vertrauen darauf, dass die Integration mehr Chancen als Hemmnisse mit sich bringen wird.
Liebe Europäer,
die Welt hat die Rolle Europas bei der Förderung des Friedens, der Versöhnung, der Demokratie und der Menschenrechte bereits anerkannt. Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, diese uns allen gemeinsamen Werte in eine Zukunftsvision und eine tägliche Realität für unsere Nachbarn und Partner zu verwandeln. Von uns wird Verantwortung durch beispielgebendes Verhalten erwartet. Wir Europäer sind ein Modell dafür, wie man gemeinsam lernen, zuhören, verhandeln und Lösungen finden kann.
Meine Damen und Herren,
wieder einmal in unserer Geschichte stehen wir an einem Scheideweg voller Herausforderungen. Europa hat jedoch stets geeignete Lösungen vorgelegt und dabei jedes Mal qualitativ ein neues Niveau erreicht. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem heute getroffene Beschlüsse für unsere Zukunft entscheidend wichtig sind. Optieren wir also für die Übernahme von Verantwortung, und haben wir keine Angst vor schwierigen Entscheidungen. Es heißt, die Aufgaben könnten weitaus größer sein als wir selbst, aber wir werden daran gemessen, wie wir mit ihnen umgehen.
Ich bedanke mich noch einmal für diesen Preis. Ich nehme ihn auch an als Verpflichtung für uns alle, bei der gemeinsamen Gestaltung des künftigen Europas Verantwortung zu übernehmen.