Europa – Quo Vadise
Es gibt in der Geschichte Leistungen, an die muss man in allen Mühen der Gegenwart gelegentlich erinnern – auch, um Kraft aus ihnen zu ziehen. Dazu gehört zweifellos die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas. Beides, insbesondere die deutsche Wiedervereinigung, daran müssen wir uns auch erinnern, wäre ohne die europäische Einigung seit dem Zweiten Weltkrieg so nicht denkbar gewesen. Das bleibt die stärkste Erinnerung in meinem politischen Leben.
Wenn das schon für jemanden gilt, der auf der glücklicheren, freien Seite des Eisernen Vorhangs leben durfte – wie viel mehr gilt das dann für die, die sich damals die Freiheit erkämpften, ergriffen, festhielten und nutzten.
Das bleibt eine im Grunde unfassbare Leistung und genauso auch, wie sich die mittel- und osteuropäischen Staaten seitdem politisch und wirtschaftlich innerhalb eines Jahrzehnts neu erfanden.
Gerade die Esten, Letten und Litauer sind nach der Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit einen beeindruckenden und erfolgreichen Reformweg gegangen, der mit dem üblichen Wort „Transformationsprozess“ viel zu nüchtern benannt ist.
Nach einer Geschichte voller Fremdbestimmung wollten die Balten endlich wieder ihren Platz in einem freien Europa unabhängiger Demokratien finden. Das ist ihnen gelungen – in dem Willen, auch in schwieriger Lage nun endlich das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Auch den jüngsten Krisen haben die Balten getrotzt. Sie haben auf die eigenen Stärken vertraut und auch Opfer nicht gescheut.
Präsidentin Grybauskaitė,
Sie haben den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur Litauens diesen zunächst entbehrungsreichen Weg so erläutert, dass sie ihn mitgingen.
Sie haben sich nicht hinter anderen versteckt.
Sie haben nicht mit dem Finger auf andere gezeigt.
Es ist deshalb eine weise Entscheidung, Ihnen in diesem Jahr den Karlspreis zuzuerkennen. Sie sind eine Politikerin, wie diese Zeiten sie brauchen.
Ich möchte überhaupt dringend empfehlen, die Beiträge Mittel- und Osteuropas für die europäische Identität und Gemeinsamkeit stärker zu beachten.
Hier im alten europäischen Westen gerät manchmal zu sehr aus dem Blick, wie erfolgreich und europäisch gesinnt die baltischen Staaten sind, aber auch Länder wie Polen oder die Slowakei. Ich freue mich auf Litauen und Lettland in der Eurozone!
Wenn wir die Verleihung des Karlspreises begehen, versichern wir uns immer neu der überragenden Bedeutung der europäischen Einigung für die Völker Europas. In diesem Jahr tun wir das in einer für Europa kritischen Situation.
Es gibt Grund zur Besorgnis angesichts von Spannungen in Europa zwischen Helfenden und Hilfeempfangenden, angesichts von Empörung in manchen Ländern, angesichts von Vorgängen, die wie Anzeichen eines Auseinanderdriftens in Europa wirken.
Die Bereitschaft und der Wille, Europa voranzutreiben, könnten dadurch sehr schnell verloren gehen. Deshalb dürfen wir nicht nachlassen, die europäische Politik zur Lösung der gegenwärtigen Krise zu erläutern, Bürger zu beruhigen, mäßigend zu argumentieren und für Geduld angesichts der Größe der Probleme mancherorts zu werben. Und deshalb müssen wir wieder und wieder darüber nachdenken und miteinander besprechen, was wir wollen in und mit Europa.
Die Antwort kann nur sein: Wir müssen die Integration Europas weiter vertiefen.
Goethe hat uns gelehrt: „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ Wenn wir Europa enger vereinen, erwerben wir unsere eben auch nur ererbte europäische Gemeinschaft.
Es ist dabei eine ganz abwegige Vorstellung, die Deutschen wollten eine deutsche Sonderrolle in Europa spielen. Nein, wir wollen kein deutsches Europa. Wir verlangen nicht von anderen, „so zu leben wie wir“ – dieser Vorwurf ergibt keinen Sinn. Ein „deutsches Europa“ – das könnten am wenigsten die Deutschen selbst ertragen!
Wir wollen Deutschland in den Dienst der wirtschaftlichen Gesundung der europäischen Gemeinschaft stellen – ohne darüber selbst schwach zu werden. Damit wäre niemandem in Europa gedient. Wir wollen ein starkes, ein wettbewerbsfähiges Europa. Ein Europa, in dem wir vernünftig wirtschaften, in dem wir nicht mehr ausgeben als wir erwirtschaften, in dem wir nicht Schulden auf Schulden türmen. Es geht um gute Rahmenbedingungen des Wirtschaftens im globalen Wettbewerb und angesichts einer für ganz Europa herausfordernden demographischen Entwicklung.
Das sind keine „deutschen Ideen“, sondern Gebote der Klugheit, Gebote einer zukunftssichernden Politik. Wir sollten uns daran erinnern: Wachstumsfreundliche Konsolidierung und Reformpolitik sind europäischer Konsens. Sie beruhen auf einstimmigen Beschlüssen.
Und es trifft auch nicht zu, dass wir in Europa in diesen Fragen ganz starr und verbohrt wären. Wir betten die Haushaltsdisziplin ins jeweilige konjunkturelle Umfeld ein und nutzen dabei die Flexibilität, die uns die Verträge erlauben.
Im vierten Jahr der Krise im Euroraum bin ich bei allen Sorgen zuversichtlich. Mein Eindruck in diesen Jahren und auf zahlreichen Gipfeln ist: In der Krise wächst Verantwortung. Im immer intensiveren europäischen Gespräch über die Lage jedes Landes wächst das Bewusstsein für Versäumnisse und Fehlentwicklungen.
Und das Konzept unserer gemeinsamen Politik zur Gesundung des Euroraums beginnt zu wirken. Vertrauen kehrt zurück.
Das durchschnittliche Haushaltsdefizit in der Eurozone ist gegenüber 2009 fast halbiert. Reformen der Arbeitsmärkte und der Sozialsysteme werden angegangen. Wettbewerbsfähigkeit steigt. Wirtschaftliche Ungleichgewichte gehen zurück. Die Finanzmärkte fassen wieder Vertrauen in die Staaten der Eurozone. Risikoaufschläge für Staatsanleihen gehen zurück.
Die Wende zum Besseren ist geschafft. Das werden wir auch bei der Beschäftigung erleben.
Es ist wahr: Die Bürger Griechenlands, Spaniens, Irlands und Portugals, auch Zyperns, erleben eine sehr harte Zeit. Vor allem die hohe Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ländern Europas ist eine Katastrophe, die wir gemeinsam bekämpfen müssen. Die Zeit arbeitet hier nicht für uns. Wir dürfen nicht eine ganze Generation verlieren. Es könnten aus dieser drohenden Perspektivlosigkeit auch Gefahren für unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung erwachsen.
Aber eine wirklich bessere Zukunft für das eigene Land ist anders als durch tiefgreifende Reformen nicht zu erringen. Es gibt keine tragfähige Abkürzung dieses Weges. Aber die baltischen Staaten haben bewiesen, dass es geht.
Wir haben in Europa Fortschritte gemacht, insbesondere mit institutionellen Verbesserungen, welche die größere Verbindlichkeit einer soliden Finanz- und Wirtschaftspolitik sichern. Nicht nur im Euroraum, sondern auch im Rahmen der Europäischen Union:
25 Mitgliedsländer haben zugesagt, sich verbindliche Schuldengrenzen zu setzen. Wer hätte das vor drei Jahren geglaubte
Auch haben wir jetzt einen permanenten Krisenbewältigungsmechanismus, der Zeit für Reformen verschafft und Ansteckungseffekte auf andere Länder im Keim erstickt. Als nächstes schaffen wir nun zügig, aber gründlich eine Bankenunion zur Trennung der Risiken von Staatsverschuldung und Bankensystemen.
Wir sind mit der Finanzmarktregulierung gut vorangekommen und sind damit einem Zustand wieder näher gekommen, in dem die Haftung für Verluste erneut bei denen liegt, die zuvor auch die risikoreichen Anlageentscheidungen getroffen haben.
Das Hilfsprogramm für Zypern mit der Heranziehung der Bankeigentümer, Anleihegläubiger und Großeinleger zeigt den Fortschritt, den Europa bereits gemacht hat. Und: Die Märkte sind ruhig geblieben. Auch die Sparer und Einleger in anderen Krisenstaaten sind nicht in Panik geraten, wie mancher befürchtet hatte. Im Gegenteil: Die Einlagen sind in einigen Krisenländern sogar gestiegen. Für weitere Fortschritte brauchen wir auch Vertragsänderungen, je eher desto besser. Wir müssen uns darüber verständigen, was in nationaler Zuständigkeit verbleiben soll und was europäisch entschieden werden muss. Und für das letztere brauchen wir eine bessere Legitimation der europäischen Institutionen – Parlament und Kommission, die in Richtung Regierung weiterentwickelt werden muss. Deshalb habe auch ich die Direktwahl des Kommissionspräsidenten immer wieder vorgeschlagen.
Unsere europäische Wirklichkeit wird nach wie vor stark von den einzelnen Nationen bestimmt. Deshalb werden wir uns dem Ziel einer tieferen Integration Europas nur Schritt für Schritt, und auch nicht immer mit allen EU-Mitgliedsländern zugleich, und nicht immer in institutioneller Rechtsetzung, sondern auch in intergouvernementaler Zusammenarbeit, pragmatisch, geduldig, aber beharrlich nähern können.
Und dieser Weg hat sein Gutes:
So lassen sich Fehler, die bei der Zusammenarbeit von Menschen immer vorkommen, besser korrigieren. Und auf diesem zwar mühsamen, aber dem vielfältigen Europa gemäßen Weg werden viele Gesichtspunkte zur Geltung gebracht: Da übersieht man nicht leicht etwas Wichtiges. Da sind am Ende die Dinge gründlich reflektiert.
Doch bei allem Pragmatismus – über das Ziel sollten wir uns einig sein: Wir brauchen ein starkes Europa, damit die Europäer in dieser Welt sich verschiebender globaler Gewichte bestehen und die internationalen Fragen und Herausforderungen mitbeantworten können. Nur ein wirklich vereintes Europa wird in der heutigen und vor allem in der künftigen Welt die uns wichtigen und uns prägenden Werte wirksam einbringen können.
Die Überlegenheit marktwirtschaftlicher Ordnungen ist heute weltweit unbestritten. Aber die Frage ist, ob sie mit Demokratie, Menschenrechten, der rule of law und sozialer wie ökologischer Nachhaltigkeit verbunden ist – und das ist Europa, das ist das westliche Modell.
Wenn sich unser Modell in der globalisierten Welt durchsetzen soll, müssen wir seine langfristige Überlegenheit beweisen. Das kann nur ein einiges, handlungsfähiges Europa. Und wir müssen auch als relativ Wohlhabende globale Verantwortung wahrnehmen und globalen Spaltungen entgegenwirken.
Nur tiefer integriert und in guter institutioneller Verfassung werden wir mit neuen Formen von Governance das nötige Miteinander in dieser Einen Welt inspirieren können.
Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, unsere sozialen Errungenschaften – das sind auch heute keine Selbstläufer. Der Freedom in the World Report des amerikanischen Freedom House, der seit 40 Jahren den Stand der politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten in der Welt bilanziert, hat jüngst mitgeteilt:
Das Jahr 2012 war das siebte Jahr in Folge, in dem die Zahl der Länder mit Verlusten an Freiheit die Zahl der Länder mit Freiheitsgewinnen übertraf. Wir Europäer dürfen uns damit nicht abfinden. Das sind wir nicht nur unserer Geschichte und unseren Kindern schuldig. Das sind wir der Welt schuldig – die mit großen Erwartungen auf Europa blickt!