Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen ehrt im Jahre 2013 mit der Präsidentin der Republik Litauen Dr. Dalia Grybauskaitė eine der herausragenden Persönlichkeiten der baltischen Region in Würdigung ihrer bedeutenden Verdienste um eine vertiefte Integration der Europäischen Union und die Bewältigung der aktuellen Krise.
Bis zum Beginn der 1990er Jahre war die Ostsee ein Mikrokosmos der Spaltung Europas. Eine scharfe Trennlinie lief durch ihre Mitte. Heute machen wir eine ganz andere Erfahrung: Die Ostsee ist wieder, wie so oft in ihrer Geschichte, Beispiel und Medium für die Einheit Europas. Sie ist – mit Ausnahme von Russland – vollständig von EU-Mitgliedstaaten umgeben und damit ein Binnenmeer der Europäischen Union; sie trennt nicht mehr, sondern sie verbindet. Historische Kooperationsmuster und alte Handelsbeziehungen sind wieder lebendig geworden und die Ostseeregion wird immer mehr zu einem Nährboden für neue Impulse, einem bedeutenden, modernen und hoch entwickelten Raum der europäischen Zusammenarbeit. Vom Eis des Kalten Krieges befreit ist die Ostsee zu einem Meer der Möglichkeiten geworden, und das ist vor allem auch den noch jungen EU-Mitgliedsländern im Baltikum zu danken.
Wenn sich 2013 die Unterzeichnung der Beitrittsverträge von Litauen, Estland und Lettland zum zehnten Mal jährt, ruft dies eines der großen und bewegenden Ereignisse der revolutionären Dekade in Erinnerung. Was kaum jemand für möglich gehalten hatte, ist längst wieder Teil der europäischen Realität. Litauer, Esten und Letten haben nicht nur ihr Selbstbestimmungsrecht wiedererlangt, sondern sind gleichberechtigte Mitglieder der Europäischen Union. Der Selbstbehauptungswille dreier verhältnismäßig kleiner Völker der großen europäischen Familie hat auf beeindruckende Weise triumphiert.
Um aber nach der Wiedererlangung von Freiheit und Unabhängigkeit die noch jungen Demokratien in die EU zu führen, wurde ein Transformationsprozess historischen Ausmaßes in Gang zu gesetzt, der den Bürgerinnen und Bürgern auch viele Opfer abverlangt hat. Umso schwerer wog nach einigen Jahren beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwungs der Rückfall in eine dramatische Krise in den Jahren 2008/2009. Und umso beeindruckender ist der Weg, den die baltischen Republiken seither beschritten haben. Hierzu bedurfte es des energischen Engagements herausragender Persönlichkeiten, die mit Mut und Augenmaß, Durchsetzungskraft und Selbstbewusstsein den Weg zur Überwindung der Krise vorgezeichnet und begleitet haben; Persönlichkeiten, die auch in schwieriger Zeit Orientierung geben und die gleichzeitig im eigenen Volk wie auch in den europäischen Partnerländern Vertrauen schaffen. Und wenn in einer Zeit größter Verunsicherung, in der fast allerorten über ein Auseinanderbrechen der Währungsunion spekuliert wird, die Republik Litauen unverändert in die Währungsunion strebt, dann ist dies ein wichtiges Signal, dass es gerade jetzt gilt, die Zusammenarbeit der Europäer zu stärken und zu vertiefen.
Dalia Grybauskaitė wurde am 1. März 1956 in Vilnius geboren. Zunächst als Personalinspektorin an der litauischen Staatsphilharmonie beschäftigt, studierte sie ab 1975 politische Ökonomie an der Universität Leningrad. Nach ihrem Examen kehrte sie nach Vilnius zurück und arbeitete kurzzeitig als Sekretärin an der Akademie der Wissenschaften; später unterrichtete sie Politische Ökonomie und Globales Finanzwesen an der Hochschule in Vilnius (bis 1990). 1988 wurde sie an der Moskauer Akademie für Gesellschaftswissenschaften promoviert. 1991 absolvierte sie ergänzend eine mehrmonatige Spezialausbildung für Senior Executives an der Georgetown University in Washington. Anschließend schlug sie eine Ministeriallaufbahn in der litauischen Regierung ein.
Von 1991 bis 1994 in verschiedenen Funktionen im Außenhandels- und im Außenministerium tätig, wurde sie 1994/95 in die Ständige Vertretung der Republik Litauen bei der EU entsandt; 1996 wechselte sie in die Botschaft ihres Landes in den Vereinigten Staaten. 1999 wurde sie zur stellvertretenden Finanzministerin ernannt und hatte maßgeblichen Anteil daran, dass es der damaligen Regierung Kubilius gelang, die finanziellen Folgen der Russland-Krise in den Griff zu bekommen. 2000 wechselte sie als stellvertretende Ministerin in das Außenressort, ein Jahr darauf stieg sie unter Ministerpräsident Brazauskas zur Finanzministerin auf.
Nach dem Beitritt Litauens zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 zog sie in die Europäische Kommission ein, in der sie zunächst die Verantwortung für Bildung und Kultur, später für Haushalt und Finanzen übernahm. Aus ihrer Zeit als Finanzministerin mit Verhandlungen mit der EU, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds bestens vertraut, erarbeitete sich Dalia Grybauskaitė in der Kommission schon bald hohes Ansehen. Sie reformierte die Struktur des EU-Haushalts und schaffte die Strukturhilfefonds für wirtschaftsschwache Regionen. Bereits ein Jahr nach ihrem Wechsel nach Brüssel wurde sie (im November 2005) für ihre solide und effiziente Arbeit zur „Kommissarin des Jahres“ gewählt. „Der Job hat für mich absolute Priorität. Ich habe meine Ziele klar vor Augen. Und ich tue alles, um sie zu erreichen“, stellte die parteilose Kommissarin von Beginn an klar. „Dazu gehörte auch, dass sie ihre Beamten, als es darauf ankam, den Job der [damaligen] britischen Ratspräsidentschaft erledigen ließ: In der entscheidenden Nacht beim EU-Gipfel im Dezember [2005] rechnete Grybauskaitės Team die Zahlen aus, die letztendlich die Einigung über das Budget für die Jahre 2007 bis 2013 ermöglichten“ (Cicero, 25.1.2006).
Zudem engagierte sie sich stark für die Umsetzung der Lissabon-Strategie und rief die Mitgliedstaaten immer wieder auf, die Umsetzungslücken zu schließen.
Nachdem sie erst im Februar des Jahres 2009 angekündigt hatte, sich um die Nachfolge des scheidenden Staatsoberhauptes Valdas Adamkus zu bewerben, konnte sie weniger als drei Monate später einen triumphalen Wahlerfolg verbuchen. Mit knapp 70 Prozent der Stimmen ließ die populäre Wirtschaftswissenschaftlerin ihren Konkurrenten bereits im ersten Wahlgang am 17. Mai 2009 keine Chance.
Indes war die Zeit ihrer Rückkehr nach Litauen vor allem geprägt von einem dramatischen Konjunktureinbruch, im Zuge dessen das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2009 um fast 15 Prozent zurückging. „Ich kann nicht in der Fremde bleiben, wenn es daheim drunter und drüber geht“, hatte sie denn auch zur Motivation ihrer Kandidatur erläutert und bereits im Vorfeld ihrer Wahl die Stabilisierung des Wirtschafts- und Finanzsystems zur Schwerpunktsetzung ihrer Präsidentschaft erklärt. Wenngleich als Staatsoberhaupt in erster Linie mit repräsentativen Aufgaben betraut, sah die überwältigende Mehrheit der Litauer in der Finanzexpertin, die bereits frühzeitig strenge Haushaltsdisziplin angemahnt und vor den Folgen der Wirtschaftskrise gewarnt hatte, vielmehr die – in der Regierung bisweilen vermisste – resolute Krisenmanagerin. Und auch der damalige Ministerpräsident Andrius Kubilius zeigte sich, „glücklich, dass sie mit einer sehr klaren Botschaft der Veränderung kommt, die sehr notwendig für Litauen ist“.
In der Folge unterstützte sie die Konsolidierungsbemühungen der Regierung Kubilius, im Zuge derer sich die litauische Wirtschaft 2010 und 2011 langsam erholen konnte und 2012 zu den inzwischen wieder dynamischsten Volkswirtschaften in der EU avanciert. Mit einer Gesamtverschuldung von unter 40 Prozent des BIP (2011) liegen die Litauer weit unterhalb des Maastricht-Grenzwertes; die Arbeitslosenquote – zwischenzeitlich auf über 18 Prozent hochgeschnellt – konnte deutlich zurückgeführt werden, ebenso das Haushaltsdefizit, das im laufenden Jahr unter vier Prozent betragen soll.
Möglich wurde dies vor allem durch ein rigides Sparprogramm, obwohl Litauen, wie Dalia Grybauskaitė rückblickend betont, binnen kurzer Zeit schon zum zweiten Mal durch eine schwere Krise in Mitleidenschaft gezogen wurde: „Zwischen 1998 und 1999 traf es uns zum ersten Mal, da kamen wir in den Strudel der russischen Krise. Schon damals haben wir kein Geld geliehen, und wir lernten, wie man mit so einer Lage umgeht. Heute bekommen wir ohnehin Unterstützung aus den europäischen Kohäsions- und Landwirtschaftskassen. Das sind für uns ziemlich bedeutende Summen. Als die Krise dann kam, wussten wir aber sofort, dass wir selbst sehr weit gehende Maßnahmen ergreifen und vor allem die Ausgaben reduzieren mussten. Unsere Währung ist an den Euro gebunden, so dass uns nur ein Schnitt bei den Ausgaben übrig blieb. Hinzugehen und um Geld zu bitten hatte keinen Sinn. Märkte reagieren auf die Stärke und die Leistungen von Regierungen und nicht darauf, wie viel Geld sie vom Internationalen Währungsfonds oder von anderen Institutionen erbitten. Regierungen, die um Hilfe bitten, beweisen damit nur, dass sie sich nicht alleine helfen können. Litauen hat nun begonnen, sich zu erholen“ (FAZ, 20.6.2011).
Und wenn die Präsidentin auch nicht über ein konkretes Datum spekulieren will, bleibt sie doch bei ihrer Zielsetzung, Litauen in die Eurozone zu führen. Zugleich stellt sie unmissverständlich klar: „Wenn man eine gemeinsame Währung hat, braucht man eine gemeinsame Fiskalpolitik oder sehr eng abgestimmte Fiskalpolitiken. Ohne das kann eine gemeinsame Währung nicht lange funktionieren […] Jeder Ökonom sagt: Wer eine gemeinsame Währung will, muss gemeinsame Regeln wollen.“
Frau Dr. Grybauskaitė ist bemüht, nicht nur gegenüber den europäischen Nachbarn gute nachbarschaftliche Beziehungen zu pflegen, sondern auch zu Russland. Unter Sicherheits- und diplomatischen Aspekten wirkt sie oft als Brückenbauerin der EU zu den östlichen Ländern. Bei internationalen Auftritten mahnt sie immer wieder die Bewahrung des Friedens und der Völkerverständigung an, darüber hinaus die Ziele des Umweltschutzes und der nachhaltigen Ressourcennutzung.
In diesen Tagen lohnt es, den Blick in den Nordosten der Europäischen Union zu richten, wo eindrucksvoll der Beweis angetreten wird, wie mit klarer Strategie, großer Disziplin und Opferbereitschaft auch tiefgreifende Krisen bewältigt werden können. In Anerkennung ihrer bedeutenden persönlichen Verdienste um die europäische Integration und die für Europa beispielgebende Entwicklung ihres Landes ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2013 die Präsidentin der Republik Litauen Dr. Dalia Grybauskaitė.