Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Verehrte Festgäste,

vor 60 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Heute ist Krieg in Europa abgeschafft. Die Menschen leben in Frieden, Freiheit und Demokratie, die allermeisten auch im Wohlstand. Wir genießen offene Grenzen, Freizügigkeit und eine starke gemeinsame Währung. Wir haben ein Höchstmaß an wirtschaftlicher Zusammenarbeit und eine funktionierende, demokratische Organisation.

Bislang war die Europäische Union eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte.

Leider werden die objektiven Erfolge nicht immer vom Gefühl des Erfolges begleitet.

In diesen Tagen steckt die Politik der Europäischen Gemeinschaft in erheblichen Problemen. Ob die zur Abstimmung anstehende Verfassung ratifiziert wird, ist offen. Desorientierung zu Zielen, Größe und Funktionieren der Gemeinschaft, die Erkenntnis auch, dass Europa mit den klassischen Methoden nationaler Politik nicht gelingen kann, dominiert im Meinungsbild. Zudem überlagern zu oft innenpolitische Fragen die europäischen Herausforderungen.

Die Identifikation der Bürger mit der Gemeinschaft ist gering, die Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament ernüchternd und die demoskopischen Umfragen vor den Referenden in Frankreich oder den Niederlanden sind sogar beängstigend.

Dennoch wissen wir: Zur europäischen Gemeinschaft gibt es keine Alternative, denn wo stünden wir mit unseren Nationalstaaten, wenn es Europa nicht gäbe?

Die Europäische Union muss sich selbst besser erklären, die Ziele klarer definieren und die Bürger stärker an den Entscheidungen beteiligen. Sie muss sagen, was sie ist und wohin sie will.

Ich wünsche mir von der heutigen Karlspreisverleihung ein kräftiges Signal in alle Länder der Europäischen Union - ein Signal, das Aufbruch zu neuen Ufern verheißt, das einen neuen Schub für die Gemeinsamkeit bewirkt, das die Notwendigkeit der Verfassung bekräftigt und die Erfolgsgeschichte europäischer Einigungsbemühungen fortsetzen lässt. Europa, liebe Freunde in Deutschland, Frankreich, England, Tschechien oder den Niederlanden, darf nicht scheitern!

Das Direktorium zur Verleihung des Internationalen Karlspreises ehrt in diesem wichtigen Augenblick der europäischen Geschichte eine Persönlichkeit, die sich Zeit ihres Lebens für den europäischen Integrationsgedanken eingesetzt hat, einen Politiker, der Europa von den Römischen Verträgen bis hin zu dem abermals in Rom unterzeichneten Verfassungsvertrag mitgestaltet, der immer wieder ein Klima des Vertrauens und der Zusammengehörigkeit geschärft, und der Europa vorgelebt hat.

Mit großer Freude begrüßen wir den Karlspreisträger des Jahres 2005, den Italienischen Staatspräsidenten, Herrn Dr. Dr. Carlo Azeglio Ciampi.

Mit ihm begrüße ich die Karlspreisträger früherer Jahre:

­ den Karlspreisträger 1979, den vormaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Emilio Colombo;

­ den Karlspreisträger 1982, den spanischen König, Seine Majestät Juan Carlos I;

­ für den Karlspreisträger 1986, Seine Königliche Hoheit Großherzog Henri von Luxemburg und seine Gattin, Ihre Königliche Hoheit Großherzogin Maria Teresa;

­ den Karlspreisträger 1990, den früheren Ministerpräsidenten der Republik Ungarn, Herrn Gyula Horn;

­ den Karlspreisträger 1998, den vormaligen Außenminister der Republik Polen, Herrn Prof. Dr. Bronislaw Geremek;

­ für den Karlspreisträger 2002, den EURO den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Herrn Jean-Claude Trichet;

­ den Karlspreisträger 2004, den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Pat Cox.

Eine besondere Freude bereitet uns mit seiner Anwesenheit der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Herr Horst Köhler, dem ich an dieser Stelle schon danken möchte für die große Ehre, die er uns mit der Laudatio auf den diesjährigen Preisträger erweist.

Ich begrüße sehr gerne die Botschafter und diplomatischen Vertreter der Länder (in alphabetischer Reihenfolge): Frankreich, Griechenland, Indien, Italien, Luxemburg, Niederlande, Polen, Rumänien, Slowakische Republik, Spanien, Tschechische Republik, Vereinigte Staaten von Amerika, Zypern und die deutschen Botschafter in Italien und Belgien.

Für die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland grüßen wir sehr herzlich den Bundesminister des Innern, Herrn Otto Schily, sowie die Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, Frau Ulla Schmidt.

Wir freuen uns sehr über die Anwesenheit des Vertreters der Landesregierung Nordrhein-Westfalens, des Finanzministers, Herrn Jochen Dieckmann.

Herzlich begrüße ich die Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften, stellvertretend für alle Anwesenden den Bischof von Aachen, Herrn Dr. Heinrich Mussinghoff.

Ich begrüße die Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei und der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, Herrn Prof. Dr. Hans-Gert Pöttering und Herrn Martin Schulz.

Mit besonderer Freude begrüßen wir in Aachen auch den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Dr. Klaus Hänsch, den früheren Premierminister der Italienischen Republik, Herrn Giuliano Amato, den Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte Nordeuropa, Herrn General Gerhard Back, den ehemaligen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Dr. Rudolf Seiters, den vormaligen Bundesfinanzminister, Herrn Dr. Theo Waigel sowie den Vizepräsidenten des nordrhein-westfälischen Landtages, Herrn Dr. Helmut Linssen und den Regierungspräsidenten Jürgen Roters.

Ich freue mich über die Anwesenheit meiner Kollegen aus Aachens Partner- und Nachbarstädten - von Bonn über Naumburg nach Reims und Halifax - sowie des Ministerpräsidenten der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, Herrn Karl-Heinz Lambertz.

Darüber hinaus grüße ich viele weitere, namhafte Persönlichkeiten, die uns durch ihre Anwesenheit ehren. Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal oder an Radio und Fernsehen teilnehmen, gilt der aufrichtige Gruß der Stadt Aachen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Welches Europa wollen wir?

Nach der Aufnahme von 10 neuen Mitgliedern im vergangenen Jahr ist die Arbeit in der Gemeinschaft komplizierter geworden. Rumänien und Bulgarien sollen zeitnah dazu kommen. Zudem hat der Ministerrat beschlossen, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Bei aller Erweiterungseuphorie stellt sich immer drängender die noch nicht beantwortete Frage, wie letztlich die Europäische Union aussehen soll.

"Europa ... ist kein Ort, sondern eine Idee" hat der französische Kulturphilosoph Bernard-Henri Levy gesagt und etwas philosophischer hinzugefügt: "Es ist eine Kategorie nicht des Seins, sondern des Geistes."

Allerdings: Ob Europa ideell, geografisch, historisch oder kulturell, ob es realpolitisch oder aufgrund seiner Identitäten definiert werden soll, ist damit nicht geklärt.

Unstreitig verfügt Europa über ein gemeinsames kulturelles Fundament, über Grundwerte, die aus der christlich-jüdischen Wurzel und der Tradition der Aufklärung erwuchsen sowie die einzigartige Erfahrung einer zweitausendjährigen geteilten Geschichte. Europa hat heute auch eine rechtliche und politische Grundordnung, zudem einen gesellschaftlichen und zivilisatorischen Konsens. Der "Vertrag über eine Verfassung für Europa" zählt schließlich die Werte auf, die uns verbinden: Würde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Nur wer diese Auffassung teilt, kann zu Europa gehören.

Europa braucht aber darüber hinaus ein handlungsfähiges politisches Gebilde, das innerhalb der Gemeinschaft für die wesentlichen Entscheidungen zuständig ist, das demokratisch und transparent arbeitet, und das in der Lage ist, Gemeinsamkeit in allen relevanten Fragen zu schaffen.

Für den inneren Zusammenhalt der Union ist die Verfassung unabdingbar. Ohne eine solche Ordnung ist die Zukunft Europas nicht zu gestalten.

Neben der Handlungsfähigkeit nach innen braucht Europa auch eine verbindliche Definition seiner Außenbeziehungen, eine Verständigung über sein Auftreten in der Welt, eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Schließlich braucht Europa ein "Wir-Gefühl", die innere Bindung der Menschen an die Gemeinschaft, Vertrauen, Respekt und Toleranz und das Bewusstsein, dazuzugehören. Europa braucht "sozialen Kitt", Herzenswärme, neben der rationalen auch die emotionale Identifikation. Ein Europa, dem die Bürger sich nicht verbunden fühlen, kann auf Dauer keinen Bestand haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa ist kein einfaches Projekt.

Die großen Errungenschaften wie Frieden, Verständigung und Demokratie sind vielen Menschen zur unmerklichen Selbstverständlichkeit geworden.

Als Traum, als Ideal, als Mission oder bloße Idee ist es den meisten Mitbürgern zu wenig konkret.

Die sozialen Probleme des Kontinents, die Differenzen der nationalen Vertreter auf europäischer Ebene, faule Kompromisse auf sog. Gipfeln wie Nizza oder Erfolglosigkeit im Lissabon-Prozess, schließlich das Gerangel um Geld und Einfluss, nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um die Verfassung und den Erweiterungsprozess weisen darauf hin, dass wir an einem Scheidepunkt stehen. Europa wächst nicht von allein. Das historische Projekt, das über ein halbes Jahrhundert mit viel Mut und Phantasie vorangetrieben wurde, bedarf eines neuen, eines demonstrativen Schubs. Europa als Ziel muss endlich definiert werden - durch Werte, Handlungsfähigkeit und das Zugehörigkeitsgefühl seiner Bürger.

Deshalb sollten wir auch in einem solchen Moment klar sagen, dass Europa kein unendlicher strategischer Prozess der Realpolitik ist, kein bloßer Erweiterungspakt für wirtschaftliche, militärische oder politische Interessen, erst recht kein Erfüllungsgehilfe der Weltpolitik anderer Großmächte.

Europa kann nur überzeugen, wenn es Maßstäbe erfüllt und Grenzen definiert.

Carlo Azeglio Ciampi vertritt diese Ziele seit Jahrzehnten. Am 4. Februar diesen Jahres sagte er in Rom, dass die Integration der Europäischen Union nur gelingt, wenn das Wertefundament anerkannt wird, die Institutionen funktionieren und dem Nationalgefühl der Sinn einer gemeinsamen europäischen Zugehörigkeit hinzugefügt werden kann.

Präsident Ciampi gehört zu den pragmatischen wie visionären Führungspersönlichkeiten, die die Interessen des eigenen Landes untrennbar mit den Zielen des vereinten Europa verbinden. Sein Eintreten für die Fortschreibung der demokratischen Struktur Italiens gilt auch für die Gemeinschaft.

Sein leidenschaftliches Engagement für die europäische Währungsunion, für den Entwurf des Verfassungsvertrages waren wegweisend. Ciampi weiß, dass eine innere Ordnung für diesen großen Kontinent erforderlich ist, um nicht nur die Institutionen der Europäischen Union zu legitimieren, sondern auch den Bürgern die Chance zur Identifikation zu geben.

Immer wieder hat er betont, dass Europa nur vereint wachsen kann, durch gemeinsame Anstrengungen in der Politik, in der Wirtschaft, in Kultur und Gesellschaft. Es gelte die Interessen aller Bürger zu vertreten und gemeinsame Antworten auf globale Herausforderungen zu geben. Europa müsse sich lösen aus der bloß wirtschaftlichen und monetären Einheit und ein "echtes Band demokratischer Solidarität" werden.

Der italienische Staatspräsident weiß auch, dass Europa seine Werte in der Welt vertreten muss. So ist er zum unermüdlichen Mittler im Dialog zur arabischen Welt, insbesondere den Anrainerstaaten des Mittelmeerraums geworden, zum Brückenbauer zwischen den Kulturen und Religionen, zum Wegbereiter für eine friedliche europäische Außenpolitik.

Der Karlspreisträger dieses Jahres ist ein großer Europäer. Er lebt Europa: authentisch und glaubwürdig, solidarisch und demokratisch, respektvoll gegenüber den Werten und engagiert in der Teilhabe als Bürger.

Herr Staatspräsident, Europa hat Ihnen viel zu verdanken.


Meine sehr verehrten Damen und Herren,

das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen ehrt im Jahre 2005 mit dem Präsidenten der Italienischen Republik einen großen Staatsmann und unermüdlichen Mentor für die Einheit Europas. Carlo Azeglio Ciampi ist einer der herausragenden Verfechter der europäischen Identität, ein Mittler zwischen den Welten und ein Förderer des Dialogs der Zivilisationen. Er steht für das Europa der Werte, für die verfasste innere Ordnung und die Demokratie. Er ist ein vorbildlicher Verfechter des Friedens.

Sehr geehrter Herr Staatspräsident,

ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2005.