Die europäische Idee ist nicht denkbar ohne die tief empfundene Friedenssehnsucht der Menschen. Und sie ist ebenso wenig denkbar, ohne das Bewusstsein eines gemeinsamen europäischen geistigen Erbes. Das für uns gültige Wertesystem, die Achtung von Menschenwürde und Freiheitsrechten, Solidarität und sozialer Gerechtigkeit gründen auf einer jahrhundertelangen gemeinsamen Kulturtradition und Geistesgeschichte. Die Bewahrung eines Grundbestandes von Werten und Maßstäben, die ihre Wurzeln in dieser Tradition haben, ist wesentlich für den Erhalt von Frieden und Freiheit, Toleranz und Weltoffenheit im Vereinten Europa.
Zur Gestaltung einer so gearteten Europapolitik bedurfte und bedarf es ebenso pragmatischer wie visionärer Führungspersönlichkeiten, die die Interessen ihres Landes untrennbar mit den Zielen des Vereinten Europas verbinden, die eine Brücke zwischen Altem und Neuem bauen, deren Begeisterung für die Integration ansteckt, die durch ihr Auftreten ein Klima des Vertrauens und der Gemeinsamkeit schaffen und die immer wieder das Bewusstsein von der Notwendigkeit der europäischen Einigung auf der Grundlage gemeinsamer Wertvorstellungen fördern und schärfen.
In Würdigung seiner herausragenden Lebensleistung ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahre 2005 den Staatspräsidenten der Italienischen Republik, Dr. Dr. Carlo Ciampi, der seine politische Arbeit stets dem europäischen Integrationsfortschritt gewidmet hat und der in der besten Tradition der Karlspreisträger Alcide de Gasperi, Antonio Segni und Emilio Colombo wie nur wenige andere für ein ebenso tolerantes wie wertgebundenes, für ein zugleich weltoffenes und zutiefst europäisches Italien als Mitbegründer und Grundpfeiler der Europäischen Union steht.
„Die europäische Integration ist im Begriff, sich aus einer wirtschaftlichen und monetären zu einem echten Band demokratischer Solidarität auszuweiten. Dieser Prozess macht eine Europäische Verfassung erforderlich: sie ist notwendig, um zu demonstrieren, dass die letztendliche Quelle für die Legitimität der Institutionen der Europäischen Union bei den Bürgern liegt; sie ist notwendig, weil es keine europäische Identität geben kann ohne die volle Zustimmung zu Werten, die den Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit sowie die Achtung der Minderheiten einschließen; sie ist notwendig, um die Grundwerte der Demokratie, der Freiheit über die Grenzen der Europäischen Union hinaus, in den Umkreis des geophysikalischen Europa, ausstrahlen zu lassen.
Die zwei entscheidenden Kerngedanken der europäischen Verfassung können wir bereits jetzt definieren: der erste Teil davon wird sich den Inhalt der Charta der Grundrechte zu Eigen machen; der zweite Teil wird die Sphären der Kompetenzen und Verantwortlichkeiten nicht nur für die Organe der Union, sondern auch für die institutionellen Subjekte (von den Gemeinden über die Regionen bis zu den Staaten) definieren, die am europäischen Gemeinschaftsleben teilnehmen.“ (Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig am 6. Juli 2000)
Mit Programmsätzen wie diesen setzte sich Carlo Ciampi schon vor Jahren an die Spitze derer, die Europa nicht nur durch einzelne Politiken, sondern vielmehr im Rahmen einer umfassenden Gesamtkonzeption zur Union formen wollten. Er, der als einer der Architekten der Europäischen Zentralbank und des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gilt, war stets davon überzeugt, dass Europa sich nicht auf die Währungsunion beschränken darf, sondern diese Währungsunion vielmehr als einen wichtigen Baustein einer supranationalen Verfassung verstehen muss. So nahm er bereits die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen an den EURO im Jahr 2002 zum Anlass für einen eindringlichen Appell, die Einführung der Gemeinschaftswährung nicht nur als Ziel-, sondern auch als Ausgangspunkt für weitere Integrationsbemühungen zu definieren:
„Es liegt in der Logik des Aufbauprozesses des vereinten Europa, dass jeder Fortschritt weitere fordert: entweder man schreitet voran, oder man gefährdet das Erreichte. [...] Seit Beginn der Studien und Debatten, die zur Gründung des EURO geführt haben, war klar, dass für das gute Funktionieren des neuen Währungssystems eine starke Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten notwendig sein würde. [...] In einer möglichst nahen Zukunft muss ohne weitere Verzögerungen jetzt die einheitliche Führung der Außen- und Verteidigungspolitik verstärkt werden; innerhalb eines neuen Vertrages muss ein einheitlicher Raum der Freiheit, der Sicherheit und der Justiz konsolidiert und erweitert werden. Diejenigen, die an diesen neuen Fortschritten zweifeln, sollten nicht vergessen, dass die bereits erzielten Fortschritte jedes Mal ebenso utopisch erschienen waren.“
Carlo Azeglio Ciampi wurde am 9. Dezember 1920 als Sohn eines Optikers in Livorno geboren und wuchs dort auch auf. Von 1937 bis 1941 studierte er an der Universität „Scuola Normale“ in Pisa. In jener Zeit hielt er sich zweimal in Deutschland auf, um die deutsche Sprache zu erlernen: einmal im Sommer 1939 in Bonn und darüber hinaus 1940/41 in Leipzig. Im Mai 1941 legte er sein Staatsexamen mit einer Examensarbeit über griechische Literatur ab. Mitte 1941 wurde er zum Militärdienst eingezogen. 1946 folgte das Staatsexamen in Rechtswissenschaft mit einer Abschlussarbeit über religiöse Minderheiten in Italien. Wenig später trat er in den Dienst der Banca d´Italia, der er bis 1993 treu blieb.
Über verschiedene leitende Funktionen, in denen er sich hohe internationale Reputation als erstklassiger Theoretiker und unbestechlicher Praktiker erwarb, rückte er 1978 als Generaldirektor zum „zweiten Mann“ hinter Zentralbankgouverneur Baffi auf. Im Oktober 1979 schließlich übernahm Ciampi selbst das Amt des Gouverneurs und vertrat Italien in der Folge in zahlreichen internationalen Bankgremien. National erreichte der Währungshüter – dem deutschen Beispiel folgend und die europäischen Entwicklungen antizipierend – die Loslösung der Zentralbank vom italienischen Schatzministerium; zudem sorgte er dafür, dass die Lira im europäischen Währungssystem EWS in die Gruppe der Währungen im Zwei-Prozent-Schwankungsbereich eingeordnet wurde.
Zwar blieb Ciampi mit Äußerungen zur aktuellen Politik stets diplomatisch zurückhaltend, indes gehörte er zu den vernehmbaren Kritikern des alten italienischen Parteiensystems. So nahm es nicht Wunder, dass im Zuge der einschneidenden Veränderungen im italienischen Staats- und Parteiengefüge zu Beginn der 90er Jahre die Wahl auf den parteilosen, aber international hoch angesehenen Ciampi fiel, als nach dem Rücktritt der Regierung Amato kein Vertreter der „altgedienten“ Politikergarde mehr für die Position des Regierungschefs in Frage kam. Am 29. April 1993 wurde der stets auf Kompetenz, Unabhängigkeit und Diskretion bedachte Ciampi als neuer Ministerpräsident vereidigt; in seine Regierung nahm er erwartungsgemäß eine große Zahl parteiloser Fachleute auf.
Nachdem er unter anderem durch groß angelegte Privatisierungsmaßnahmen die Weichen für einen Aufschwung der italienischen Wirtschaft gestellt hatte, nahm er im Januar 1994 einen Misstrauensantrag zum Anlass, seinen Rücktritt einzureichen und machte den Weg für eine erste Parlamentswahl nach neuem Wahlrecht frei. Nach dem Sieg der konservativen Allianz unter Führung von Silvio Berlusconi trat Ciampi im Juli 1994 als stellvertretender Vorsitzender in den Dienst der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Zudem übernahm er den Vorsitz einer nach ihm benannten Expertenkommission, die sich in zwei Berichten kritisch mit den Wettbewerbsmöglichkeiten der europäischen Wirtschaft auseinandersetzte.
Auf Bitten des Überraschungssiegers der vorgezogenen Parlamentswahlen im April 1996, Romano Prodi, kehrte Ciampi indes im Mai 1996 in die Politik zurück und übernahm die Zuständigkeit für das Schatz- und Haushaltsministerium. Mit einem rigiden Stabilitätskurs konnte Ciampi das Haushaltsdefizit, die Inflationsrate und die Schuldenquote Italiens nachhaltig absenken. Ende April 1998 wurde das Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaft offiziell in den Kreis der EURO-Mitglieder aufgenommen.
Zuvor hatte der ausgewiesene Finanzfachmann, der bereits maßgeblich an der Erarbeitung des Statuts einer politisch unabhängigen Europäischen Zentralbank mitgewirkt hatte, gemeinsam mit seinem deutschen Amtskollegen Theo Waigel und dem luxemburgischen Regierungschef Jean-Claude Juncker für die Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes Sorge getragen.
In der Nachfolge von Oscar Luigi Scalfaro wurde Dr. Dr. Carlo Ciampi im Mai 1999 schließlich zum italienischen Staatspräsidenten gewählt. Nachdem sich alle großen Parteien auf seine Person verständigt hatten, erhielt er bereits im ersten Wahlgang eine überwältigende Mehrheit in der Wahlversammlung. In der Folge hat sich der überzeugte Europäer immer wieder mit den drängenden Zukunftsfragen der Union beschäftigt und sowohl in den Mitgliedsstaaten der EU als auch gegenüber seiner eigenen italienischen Regierung nachdrücklich für möglichst rasche Fortschritte im Integrationsprozess geworben:
In Europa kann allerdings auch nichts mehr sein wie früher. Die Widersprüche unseres Kontinents lassen sich nicht überwinden, wenn mit der rechten Hand eine gemeinsame Außenpolitik beschworen und mit der linken deren Funktionieren verhindert wird. Die Widersprüche lassen sich nicht lösen, wenn wir nicht den Mut aufbringen zu verstehen, das Systeme, die sich nur auf das Spiel von Allianzen und nationale Egoismen stützen, in der Vergangenheit nur kurzlebigen Frieden garantierten, der dann in entsetzliche Konflikte mündete. Die Gefahr latenter Nationalismen ist im Übrigen immer vorhanden. Die Überwindung nationaler Sichtweisen, die Konsolidireung eines Systems geteilter Souveränität, die Einhaltung der bestehenden Regeln vollenden die Union. Ein einheitliches System der Institutionen ist die einzige Garantie dafür, dass Europa voranschreitet.“
Carlo Ciampi wurden für seine Verdienste bereits hohe Auszeichnungen zuteil; so ist er Großoffizier des Verdienstordens Italiens (1974) und erhielt u.a. das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (1986). Er ist seit über 50 Jahren mit Franca Pilla verheiratet, die als wichtige Beraterin ihres Mannes gilt. Gemeinsam hat das Paar zwei Kinder.
Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen ehrt im Jahre 2005 mit dem Präsidenten der Italienischen Republik, Dr. Dr. Carlo Ciampi, einen großen Staatsmann und ruhelosen Mentor Europas. Er steht für das demokratische Italien, das Europa der Werte und die große Erfolgsgeschichte der Gemeinschaft von den Römischen Verträgen bis hin zu dem abermals in Rom unterzeichneten Verfassungsvertrag, der eng mit seinem Wirken verbunden ist. Carlo Ciampi steht für die innere Ordnung und für die europäischen Grundrechte, Freiheit, Demokratie, Toleranz, Weltoffenheit, auch die Säkularisation. Als Verfechter einer europäischen Identität – mit politischen, kulturellen und geographischen Grenzen – steht er gegen Beliebigkeit. Und als Mittler zwischen den Welten steht er für den Dialog der Zivilisationen, insbesondere auch die Zusammenarbeit mit der arabischen Welt.