In den Pantheon der mit dem Karlspreis ausgezeichneten großen Europäer tritt nun auch ein Pole ein. Ich empfinde eine Inkommensurabilität meiner Tätigkeit den Verdiensten meiner Vorgänger gegenüber: ich habe keinen Krieg gewonnen, keinen Frieden gestaltet, ich habe keine Grundlagen der europäischen Strukturen gelegt. Meinem Land war zwar eine Glanzzeit beschieden, im modernen Zeitalter fiel es jedoch des öfteren den europäischen Großmächten zum Opfer und verschwand für mehrere Jahre von der politischen Karte Europas. Polen, der von Jalta aufgezwungenen Ordnung ausgeliefert, konnte bis zum Jahre 1989 an der Wiederentstehung der europäischen Einheit keinen Anteil nehmen. Europa blieb aber für immer ein Gegenstand des polnischen Freiheitstraumes. Die Vereinigung Europas, deren Zeugen wir jetzt sind, zur Jahrtausendwende, sein können, wäre ohne diesen polnischen Traum, welcher dem Fall der Berliner Mauer, dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall des Kommunismus zugrunde lag, nicht möglich gewesen. Ich habe mich daran, so gut wie ich konnte, beteiligt. Von Europa habe ich immer geträumt. Es ist vielleicht auch wichtig: große politische Entwürfe müssen doch von Träumen begleitet werden, da diese den Willen zur Tat erwecken.
Den Stoff für meinen Traum lieferte wahrscheinlich die individuelle Biographie, welche in die dramatischen Ereignisse von mehr als sechs Jahrzehnten unseres Jahrhunderts verwickelt ist. Ich hielt einmal die vergilbten Seiten einer Nummer der "New York Times" vom 6. März 1932, dem Tag meiner Geburt, in den Händen. Das zentrale Ereignis unter den Tagesnachrichten bildete die Entführung des Kindes von Charles Lindbergh, dem berühmten Flieger, welcher fünf Jahre zuvor den transatlantischen Flug aus New York nach Paris in 33 Stunden zustande gebracht hatte. Weiters bewirbt sich Gouverneur Roosevelt um die Nominierung als Kandidat der Demokraten für die Präsidentenwahl und bei Sacks Fifth Avenue gibt es einen Ausverkauf von 5000 Hemden. Aus Asien meldet man die Vorstöße japanischer Armee in China. Aus Europa findet sich eine Ankündigung der demnächst stattfindenden Leipziger Messe, die als Barometer für die deutsche Wirtschaft nach der Großen Depression betrachtet wird.
Diese Sonntagsausgabe der New Yorker Tageszeitung - ich bin nämlich ein Sonntagskind- enthält auch einige Buchbesprechungen, und wir finden unter ihnen Rezensionen einer Biographie von Feldmarschall Hindenburg und zweier Bücher über Hitler. Die Präsidentenwahl in Deutschland stand bereits bevor und der alte Feldmarschall erscheint dem amerikanischen Autor als ein Protagonist der deutschen Demokratie, der im Namen des Patriotismus einen Bruch mit der alten Ordnung verlangt und den Glauben an den Sinn der Geschichte wiederherstellt. Der Rezensent der Bücher über Hitler untersucht den Erfolg dieses berühmten Mannes, der sich wie ein deutscher Mussolini vorkommt, die Macht seiner Bewegung jedoch auf den, aus dem Traktat von Versailles und dem "polnischen Korridor" resultierenden Frustrationen aufbaut. Er tut es ohne Programm, denn, wie einer der besprochenen Autoren schreibt: "Take the Jews out of Hitler's programme and the whole thing collapses". "Und was passiert dann weiter mit den Deutschen?", fragt der Rezensent von NYT: er weiß es nicht. Wir wissen es bereits.
In der gleichen Nummer, diesmal im "Magazine" finden wir noch eine Reportage über das Erziehungssystem in Sowjetrußland, oder genauer - der Formulierung im Titel des Artikels folgend - darüber, wie aus sowjetischen Kindern Kommunisten gemacht werden und wie der Staat sie darauf vorbereitet, den ihnen zugedachten Platz als Subjekte der Neuen Ordnung einzunehmen (How the Russian State trains them to take their place as sovereigns of the New Order). Die Autorin der Reportage schildert mit Verwunderung, wie die Kinder in einer sowjetischen Schule darüber diskutieren, ob sie ihre Eltern ebenso lieben wie Lenin, Stalin und Vorocilov. Die Gulags und die Kollektivierung der Landwirtschaft werden in dieser Nummer der "New York Times" nicht erwähnt.
Jene Ereignisse, welche mein Leben bestimmt haben, kündigen sich gerade auf diesen hinteren Seiten der New Yorker Zeitung an. Der Haß und das Verbrechen des Faschismus, die Illusion und das Verbrechen des Kommunismus warfen einen Schatten auf die ganze Epoche und verlangten nach einem Ausgleich. Sofern überhaupt etwas gegenüber dem Schrecken des Krieges, dem Drama der Shoah, der totalitären Systeme ein Gewicht haben kann, ist es eben der Gedanke an die Leistung der europäischen Zivilisation und an den Geist Europas. In der europäischen Idee fand ich die Hoffnung. Oder besser gesagt, in der Affirmation der Würde der menschlichen Person, im Streben nach Freiheit, in der Verwirklichung der Idee der Solidarität, denn gerade ihnen stand die europäische Idee am nächsten.
Im Jahre 1840 schrieb Victor Hugo über seine Wanderungen am Rhein: über den Eindruck, den auf ihn Aachen und vor allem sein großartiger Dom gemacht hatte: "Après quelques instants de contemplation, une majesté singulière se dégage de cet édifice extraordinaire, resté inachevé comme l'oeuvre de Charlemagne lui-mème, et composé d'architectures qui parlent tous les styles comme son empire était composé de nations qui parlaient toutes les langues." ("Nach einer Weile der Betrachtung geht eine besondere Majestät aus diesem einzigartigen Gebäude hervor, welches unvollendet blieb, wie das Werk Karls des Großen, und welches sich aus vielen Architekturen zusammensetzt, die mit allen Stilen zu uns sprechen, ähnlich, wie das Imperium Karls aus Völkern bestand, die in allen Sprachen reden.") Aachen ist unzertrennlich mit dem Werk Karls des Großen und mit der Idee eines vereinten Europas verbunden. Im Prozeß der Entstehung der europäischen Gemeinschaften schien die Gestalt des imperium christianum, wie es von Karl erschaffen wurde, wieder aufzuleben - es traten die gleichen ethnischen Gruppen hervor, es schien auch, daß die Grenzen aus dem Jahre 800 wiederhergestellt werden, sowie auch die gleichen Marken, welche jedoch sowohl eine Verteidigungs- als auch eine Ausschließungsstruktur darstellen. Jenseits des Horizonts eines limes sorabicus oder eines limes saxonious lagen die Gebiete fremder Völker. Das Imperium unterhielt zwar politische und
wirtschaftliche Beziehungen zu der Welt der Westslawen, die Separation war aber offensichtlich.
Aachen steuerte der Geschichte der europäischen Idee noch eine weitere Legende hinzu - jene von Kaiser Otto dem Dritten, der das Grab Karls des Großen öffnete und die Asche seines großen Vorgängers ehrte. Allerdings haben zwei Jahrhunderte die Gestalt der imperialen Struktur verändert. Das Christentum weitete sich über den karolingischen limes hinaus. Der Märtyrertod des heiligen Adalbert an der Küste des Baltischen Meeres symbolisiert die Öffnung des westlichen Imperiums nach Osten und Norden und die Verehrung des Prager Bischofs in Polen, Böhmen und Ungarn erscheint als eine Verwirklichung der politischen Ideen der Ottonen. Das Treffen zwischen Kaiser Otto und dem polnischen Herrscher Boleslaus in Gnesen im Jahre 1000 am Grab des Hl. Adalbert stellt ein bedeutendes Datum in der europäischen Geschichte dar.
Ein Jahrtausend später läßt die Erweiterung der Europäischen Union diesen politischen Entwurf der Ottonen wieder lebendig werden: dieser Prozeß spendet Aachen die Kraft einer neuen Botschaft, da erst die Gegenwart der Erinnerung der Vergangenheit Sinn verleiht.
Es ist mir bewußt, daß das Streben Polens und seiner Nachbarländer nach dem Beitritt in die Europäische Union auch bloß als ein Wunsch nach der Teilnahme am Wohlstand und an der Sicherheit, welche von den Staaten des Westens erarbeitet wurden, betrachtet werden kann. Jedoch die Erweiterung der NATO und der Europäischen Union, die gerade um das Jahr 2000 stattfinden wird, stellt einerseits ein Zeugnis des Erfolgs der europäischen Integration, andererseits auch deren Bereicherung dar. Im Einigungsprozeß Europas im Zuge seiner tausendjährigen Geschichte spielte die Geopolitik immer eine besondere Rolle, da die Einigungsversuche im Angesicht großer Bedrohung unternommen wurden. Derzeit tritt an die Stelle der Geopolitik eine Motivation neuer Art - wenn ich diese ein wenig riskante Formulierung verwenden dürfte - eine geokulturelle. Die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen finden ihr Fundament in der Kultur und in der europäischen Geistigkeit, und
die Einigung Europas wird nicht mehr von der Angst, sondern von dem Empfinden einer gemeinsamen Identität motiviert.
Der europäische Einigungsprozeß verlief in den vergangenen Jahrzehnten unter dem Vorzeichen des "Kalten Krieges" und einer geteilten Welt. Das Bewußtsein der Bedrohung ließ ein Bedürfnis nach Verteidigung entstehen. Zurückblickend können wir mit Sicherheit sagen, daß dank des klugen Handelns der Gründungsväter, die Widersprüche und Konflikte geschlichtet wurden und der gemeinsame Markt sowie die Strukturen einer wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit sich herausbilden konnten. Diese Einheit Europas baute jedoch auf der Teilung des Kontinents auf. Die Berliner Mauer teilte nicht nur Deutschland, sondern auch ganz Europa; solange diese Teilung nicht überwunden wurde, hatte die europäische Konstruktion einen brüchigen und vorläufigen Charakter. Sie war ein Haus ohne Fundamente.
Erst das Jahr 1989 führte eine radikale Veränderung herbei. Der moralische Widerstand von Sacharov und die entlarvenden Werke von Solzenicyn waren Folgen eines Prozesses, an dessen Anfang der Mut polnischer Arbeiter und die Lehre des polnischen Papstes standen. Der Kommunismus in Europa zerfiel, die Sowjetunion hörte auf zu existieren, die Teilung Deutschlands wurde aufgehoben. Und dann, erst dann konnte die wirkliche Einigung Europas einsetzen. Dies gerade ist der wahre Sinn der Einigung Europas an der Schwelle zum dritten Jahrtausend.
Am Fluchtpunkt der Einigung Europas treten mit ganzer Deutlichkeit Fragen zutage, welche über die Prosa der Verhandlungen bezüglich der Aneignung der acquis communautaire, der Agrarpolitik, der Sackgassen der Textil- und Metallproduktion, der Grenzkontrollen, hinausgehen. Der Gegenstand dieser Verhandlungen hängt mit den Entscheidungen von Maastricht, Amsterdam oder Schengen zusammen. Es ist mir bewußt, daß dies sehr wichtige Angelegenheiten sind. Jedoch gerade mit Aachen, mit der karolingischen Hauptstadt Europas, sollte man Fragen nach dem Sinn der Einigung Europas verbinden. Indem wir aus der Vergangenheit Schlüsse ziehen, sollten wir festlegen, was wir wollen und was wir nicht wollen.
Was wollen wir?
In der judeo-christlichen und humanistischen Tradition wurzelt unsere anthropozentrische Überzeugung, die menschliche Person sei ein Fundament der gesellschaftlichen Ordnung. Die Achtung der in den internationalen und europäischen Resolutionen definierten Menschenrechte gehört zu unserem ethischen patrimonium. Toleranz und Maß - der italienische Philosoph Norberto Bobbio berief sich auf den Begriff mitezza - betrachten wir als besonders bedeutungsvolle Leitmotive europäischer Politik. Damit ist nicht nur die Akzeptanz der Verschiedenartigkeit und des Andersartigen verbunden, sondern auch deren Würdigung als einen besonderen Reichtum der europäischen Kultur; im mittelalterlichen Polen existierten nebeneinander katholische und orthodoxe Kirchen, Synagogen, Moscheen und die alte "Rzeczpospolita" - res publica - stellte eine multikulturelle und multiethnische Gesellschaft dar. Das heutige Europa braucht sich vor einer Öffnung nicht zu fürchten, im Gegenteil, diese Öffnung sollte als ein Ausdruck seiner Kraft betrachtet werden. Das höchste Bestreben Europas und sein schöpferisches Prinzip ist die Freiheit. Die Geschichte Europas ist eine Geschichte der Freiheit, in diesem Sinne zumindest, da gerade hier die Herausbildung der Idee der Freiheit sowie deren Verwirklichung sich am deutlichsten durch das Erringen der Freiheit durch Städte, Völker und Klassen manifestierte. Obwohl bereits Herodot behauptet hatte, daß gerade die Freiheit Europa von Asien unterscheidet, wird dieses erst heute im Gründungsakt der Europäischen Union bestätigt. Das Prinzip der Subsidiarität dient auch der Verwirklichung der europäischen Freiheit, indem es die Macht der Hauptstädte einschränkt und die Rechte der lokalen Gemeinschaften fördert, wodurch die Regierung dem Bürger näher gebracht und die Stellung des Einzelnen als Subjekt der Gesellschaft gefestigt wird. Das Streben nach Wirtschaftswachstum, nach wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt stellt einen prometheischen Zug im europäischen Erbe dar. Mit dem Bewußtsein der Verantwortung für die Umwelt und für die Lebensqualität verleiht es dem heutigen Europa einen angesehenen Platz im globalen Wirtschaftssystem. Schließlich -last but not least - wir wollen ein solidarisches Europa, welches imstande ist, den Egoismus und Partikularismus zu überwinden, die soziale Ausgrenzung abzulehnen, die Armut und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und gleiche Chancen für alle zu schaffen.
Was wollen wir nicht?
Im Bewußtsein der Verantwortung für europäische Geschichte lehnen wir die Ideologie und die Praxis des Totalitarismus ab. Wir lehnen den Faschismus und den Kommunismus ab - die Schmach des ausgehenden Jahrhunderts. Der Rauch von Auschwitz und Birkenau, die Erinnerung an die Konzentrationslager Hitlers und an die Gulags Stalins prägen doch die europäische Erinnerung tief genug, um der europäischen Konstruktion diese Grenze zu setzen. Die Ablehnung des nationalen Chauvinismus und jeglichen Egoismus von Nationen oder Klassen sowie die Ablehnung des Ethnozentrismus gehören ebenfalls zum Programm der europäischen Integration. Wenn wir dieser Umkehrung der europäischen Idee auch noch jegliche Formen des ideologischen oder politischen Fanatismus hinzufügen, dann können wir sagen, daß jene Tradition, die der europäischen Einigung zugrunde liegt, den Haß ausschließt. Ein derart konstruiertes Europa erfüllt - oder versucht zu erfüllen -seine eigentliche Mission, deren Wesen Václav Havel im Universalismus sieht, in der Suche nach Lösungen, welche an alle Menschen gerichtet sind. Auch wenn dieses nur ein geistiges Ideal oder nur ein Traum sei, ist seine Bedeutung wesentlich, da wir veranlaßt werden, Brücken zu bauen - und nicht zu zerstören. Die mittelalterlichen Chronisten schildern mit Bewunderung die Brücke über den Rhein in Mainz und mit Schrecken den Brand, von dem sie 813 vernichtet wurde. Die Brücke in Mostar, in Bosnien, gehört auch zur europäischen Tradition - sie verband ein halbes Jahrtausend lang die Ufer und die Menschen und wurde vor unseren Augen zerstört: der Haß hat sie vernichtet.
Ich kann mir jedoch ein Europa ohne Brücken nicht vorstellen, obwohl deren Bau manchmal eine schwierige Aufgabe darstellt.
Das betrifft auch die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland. Die Vergangenheit - sowohl die jüngste als auch jene weit zurückliegende - wirft auf sie einen tiefen Schatten und prägt ein Bild voller Feindlichkeit und Abneigung. In den 90er Jahren unterlagen unsere Beziehungen einer überraschenden und wundervollen Veränderung und ich halte diese Veränderung für eines der größten Ereignisse unseres Jahrhunderts. Eine polnisch-deutsche Versöhnung ist zustande gekommen, die Bundeskanzler Kohl in einem Gespräch mit mir im Juni 1989 in Bonn als seine Mission bezeichnete zusammen mit der Wiedervereinigung Deutschlands. Beides ist in Abhängigkeit voneinander, also gemeinsam Wirklichkeit geworden. Dank der Wiedervereinigung Deutschlands konnte Polen frei werden und dank der im großen Epos der "Solidarnosc" errungenen Freiheit Polens konnte die Wiedervereinigung Deutschlands stattfinden.
Dieses betrifft auch Europa. Seine Vereinigung fand dank der großen Versöhnungen statt. Das ist die eigentliche Mission und Botschaft meiner Generation. Ihre Grundlage bildeten die großen Worte der polnischen Bischöfe: "Wir verzeihen und bitten um Verzeihung." Ich wiederhole diese Worte heute. Auch für Europa können jene zwei Worte von Nutzen sein, jene zwei Gründungsideen der europäischen Einheit, welche die polnische Botschaft darstellen: Freiheit und Solidarität.