Verehrte Festgäste!
Europa steht am Ende des zweiten Jahrtausends vor der Verwirklichung seines Traumes: der Einheit.
Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union bieten die einmalige Chance, historische Trennungen zu überwinden und die Gemeinschaft in Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand zu gestalten.
Auf der Grundlage des europäischen Mythos und der Geschichte, aus der Kraft der kulturellen Vielfalt, dem hoch entwickelten Bewußtsein seiner Bürger zur Gemeinschaftlichkeit, vor dem Hintergrund bedeutsamer politischer Verträge und wirtschaftlicher Zusammenarbeit, ist eine Perspektive eröffnet, wie sie seit Karl dem Großen für Europa nicht mehr vorhanden war.
Wir haben die Möglichkeit, die Sehnsucht der Menschen nach Verständigung und Harmonie, Sicherheit und Wohlergehen zu erfüllen und der Jugend mit Europa nicht nur ein bedeutsames Ideal, sondern auch eine neue Identität zu vermitteln. Unsere Generation kann den Konsens zwischen den Völkern schließen und die Europäische Union auf das Europa in seiner geographischen Gänze ausrichten.
Es bedarf dazu überzeugender Visionen, auch überzeugender Visionäre. Es bedarf der Persönlichkeiten, die mutig und tatkräftig für diesen Prozeß der Gemeinschaft eintreten und durch ihr Engagement andere überzeugen. Als eine solche Persönlichkeit begrüßen wir den Träger des Internationalen Karlspreises 1998 zu Aachen, den Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen, Herrn Prof. Dr. Bronislaw Geremek.
Szanowny Panie Ministrze, bardzo sie cieszymy z Pana przyjazdu do Akwizgranu. Serdecznie witamy.
Mit besonders großer Herzlichkeit begrüßen wir den Staatspräsidenten der Ungarischen Republik, S. E. Dr. Arpad Göncz, der sich dankenswerterweise bereit erklärt hat, die Laudatio auf den diesjährigen Preisträger zu halten. Herzlich willkommen in Aachen.
Wir begrüßen mit ihm die Karlspreisträger der früheren Jahre:
den Karlspreisträger 1997, den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Prof. Dr. Roman Herzog
den Karlspreisträger 1995, den früheren Bundeskanzler der Republik Österreich, Herrn Dr. Franz Vranitzky
den Karlspreisträger 1993, den früheren Ministerpräsidenten des Königreichs Spanien, Herrn Felipe González Márquez
den Karlspreisträger 1977, den vormaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Walter Scheel
den Karlspreisträger 1976, den ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten, Herrn Leo Tindemans
für die Karlspreisträger 1969, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, den damaligen Vizepräsidenten Dr. Fritz Hellwig
den Karlspreisträger 1963 und früheren britischen Premierminister The Right Hon. Sir Edward Heath
Wir freuen uns über die Anwesenheit des Präsidenten des Sejm der Republik Polen, S. E. Maciej Plazynski sowie der polnischen Ministerin für Kultur, Frau Joanna Wnuk-Nazarowa.
Mit großer Herzlichkeit begrüßen wir auch den Bundesminister des Auswärtigen und Vizekanzler, Herrn Dr. Klaus Kinkel, sowie den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herrn Dr. Norbert Blüm.
Wir begrüßen sehr herzlich den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Herrn Manfred Stolpe.
Zum letzten Mal in seiner Funktion als nordrhein-westfälischer Landesvater weilt unter uns Herr Ministerpräsident Dr. Johannes Rau. Seien Sie uns sehr willkommen.
Mit ihm begrüßen wird die Landesminister Frau Anke Brunn und Herrn Prof. Dr. Manfred Dammeyer.
Eine große Freude macht uns mit ihrer Anwesenheit das Mitglied der Europäischen Kommission, Frau Dr. Monika Wulf-Mathies. Sehr herzlich heißen wir die Botschafter der Länder Belgien, Frankreich, Griechenland, Island, Israel, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Osterreich, Polen, Schweden, Spanien, der Slowakischen Republik, Tschechien, Ukraine, Ungarn und Zypern, sowie die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der EU und in Polen, die Botschafter Polens bei der EU und der NATO willkommen. Sehr herzlich begrüßen wir den Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte Europa-Mitte, Herrn General Joachim Spiering. Herzlich willkommen sind uns die Oberbürgermeister der Stadt Warschau, unserer Partnerstadt Toledo und der Nachbarstadt Lüttich.
Ich begrüße den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Herrn Ignatz Bubis, den Vertreter des polnischen Episkopats, Msgr. Dr. Franciszek Mrowiec, als Hüter des Karlsschreins zu Aachen, Bischof Dr. Heinrich Mussinghoff und die Vertreter der Kirchen.
Wir begrüßen mit ebenso großer Freude die Abgeordneten verschiedener europäischer und nationaler Parlamente, die Vertreter europäischer Institutionen sowie den Präsidenten der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Schließlich grüße ich viele weitere, namhafte Pesönlichkeiten, die uns durch ihre Anwesenheit ehren. Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal oder an Radio und Fernsehen teilnehmen, gilt der aufrichtige Gruß der Stadt Aachen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die europäische Integration braucht jetzt ein neues Leitbild für die Zukunft.
Das Europa von morgen sollte seine besten geistigen Errungenschaften - Menschenrechte, Demokratie, Gerechtigkeit und auch Frieden - als vornehmsten Beitrag seiner Bürger in der Völkergemeinschaft vorleben. Es sollte den Menschen helfen, eine Verständigung über die Vielfalt in der Einheit zu gewinnen, die Ethik des gemeinschaftlichen Lebens zu definieren und Maßstäbe nicht nur für die Beziehungen untereinander, sondern auch zwischen Mensch und Natur zu setzen.
Im Europa der Zukunft gilt es, die Vorbehalte vor dem jeweils anderen zu verlieren und einen immer größeren Raum für das Gemeinsame zu eröffnen. Die normative Festlegung, die philosophische Verständigung, die Beschreibung des europäischen Ideals ist für uns die wichtigste Herausforderung. Es gilt, die zukünftige europäische Ordnung vor allem auf Verbundenheit und Zusammengehörigkeit zu gründen. Es gilt, wie der Karlspreisträger Václav Havel uns vor zwei Jahren in diesem Saal mahnte, auch die gemeinsam errungene metaphysisch verankerte Verantwortung zu bemühen und Europas Aufgabe schließlich darin zu erkennen, sein Gewissen und sein Verantwortungsbewußtsein für die zivilisatorische und kulturelle Gestaltung des Kontinents, aber auch seiner Außenwirkung einzubringen. Die Menschen müssen erfahren, daß die Europäische Union eine Gemeinschaft der Werte, der Ideale ist, eine Bündelung von guten Gefühlen, positiven Hoffnungen und erstrebenswerten Perspektiven.
Die Union ist inzwischen auf 15 Mitgliedsstaaten gestiegen. Die neuen Demokratien in Ost- und Mitteleuropa streben einen zugigen Beitritt an. Auf dem Balkan kann eine Beruhigung der Verhältnisse die Zusammenarbeit mit dem übrigen Europa ermöglichen. Zwei große Vertragsreformen, die Einheitliche Akte und der Vertrag über die Europäische Union, haben den institutionellen politischen Rahmen der Gemeinschaft entscheidend gestärkt. Der Euro ist beschlossen und stellt eine wichtige Gemeinschaftskoordinate für die Zukunft dar. Die Vorteile des integrierten europäischen Binnenmarktes, der für rund 370 Millionen Europäer den freien Austausch von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital vorsieht, lassen sich auf der Basis der Währungsunion, hoffentlich bald auch einer Wirtschaftsunion umsetzen.
Allerdings: rund 20 Millionen Menschen sind in der Union ohne Arbeit. Mindestens ebensoviele unterschreiten die Armutsgrenze. Der Energie- und Ressourcenverbrauch steigt und die öffentlichen Haushalte weisen Rekordschulden auf. In Brüssel beherrscht zu oft St. Bürokratius die Amtsstuben und in den Medien interessieren Personalpossen à la Trichet mehr als die realen Fortschritte des Ministerrates.
Wir müssen erkennen: Markt und Geld taugen alleine nicht, um die Menschen für die europäische Idee zu begeistern und sie für neue Anstrengungen zu motivieren. Natürlich sind pragmatisches Handeln und Wirklichkeitssinn eine unabdingbare Voraussetzung für Fortschritt und Weiterentwicklung. Aber ebenso unabdingbar sind die Emotionen, die erst dynamische Entwicklungen bewirken. Die europäische Einigung muß stärker zur Sache der Bürgerinnen und Bürger Europas werden. Ohne ihre unmittelbare Beteiligung kann es keine Vollendung der EU zu einer vollintegrierten und bürgernahen, wirtschaftlichen und politischen Union geben.
Die EU braucht - um von den Bürgern akzeptiert zu werden -Durchsichtigkeit. Dazu gehört eine tiefgreifende Vereinfachung ihres Gefüges und ihrer Verfahren. Das föderale und das demokratische Prinzip müssen für jedermann nachvollziehbar organisiert sein. Zur Klärung der Zuständigkeiten von Union und Mitgliedsstaaten reicht das Subsidiaritätsprinzip allein nicht aus. Das Europäische Parlament, meine Damen und Herren, muß endlich zu einem Arbeitsparlament mit klar umrissenen Zuständigkeiten und Rechten entwickelt werden. Und: Die Europäische Kommission sollte ohne Rekurs auf nationale Quoten arbeiten und stärker an das Votum des Europäischen Parlaments gebunden sein. Europa braucht Klarheit über sich selbst, über Ziele, Kompetenzen und die Integrationsstruktur, schließlich über seine geographischen Grenzen.
Das verkündete Programm der "Vertiefung" und "Erweiterung" ist nicht durch ein kurzschlüssiges "Entweder-oder", sondern nur im Wege eines "Sowohl-als-auch" zu lösen. Noch in diesem Jahrzehnt muß sich die Europäische Union den ersten mittel- und osteuropäischen Staaten öffnen. Polen, Ungarn, Tschechien, Estland und Slowenien sind Teil Europas. Diese Länder haben - wie auch Zypern - einen Anspruch auf Beitritt in die Union.
Unsere Aufgabe wird es sein, ihnen bei den Herausforderungen zur Stabilisierung der Demokratie, beim Übergang zur Marktwirtschaft, bei der Verdichtung des sozialen Netzes und der Herstellung der Chancengleichheit zu helfen; wir müssen helfen, auch wenn die meisten in der Union ihre eigenen Probleme an den sozialen und ökonomischen Fronten haben, denn ein zweigeteiltes Europa kann nicht das Europa der Zukunft, des Friedens und der Freiheit sein.
Die Hinwendung Polens zur politischen und gesellschaftlichen, zur wirtschaftlichen und geistigen Realität Europas ist ein Gewinn für uns alle. Polen ist wie kein anderes Land auf unserem Kontinent so oft zerrissen und mit brutaler Gewalt unterdrückt worden. Es hat unter der Gewaltherrschaft der Nazis unvorstellbar gelitten. Tiefe Wunden und Narben schmerzen bis heute. Gerade für uns Deutsche stellt die Geschichte die Aufgabe, Verständigung und gute Nachbarschaft zwischen unseren beiden Völkern anzustreben und das Gegeneinander einer belastenden Vergangenheit zu einem Miteinander in einer gemeinsamen europäischen Zukunft werden zu lassen. Wir Deutschen tragen vor allem die Verantwortung dafür, daß der Weg Polens schnell zurück nach Europa führt.
Die Polen brachen als erste mit der kommunistischen Herrschaft, bahnten sich als erste den Weg zur parlamentarischen Demokratie und setzten damit ein Zeichen der Ermutigung für die breite gesellschaftliche Erneuerung in Mittel- und Osteuropa. Dieser Prozeß wurde gesteuert durch Menschen, die allen Verfolgungen zum Trotz mit Mut und langem Atem für Freiheit und Demokratie Partei ergriffen. Prof. Dr. Bronislaw Geremek ist einer von ihnen, einer dem die Vision eines gemeinsamen Europas lebenslange Zielperspektive ist.
Seit Mitte der siebziger Jahre aktiv in Dissidentenkreisen, wurde er schnell einer der führenden oppositionellen Bürgerrechtler. Zusammen mit Tadeusz Mazowiecki überbrachte er 1980 den streikenden Arbeitern in Danzig eine Solidaritätsadresse Warschauer Intellektueller, avancierte bald zu einem der engsten Mitarbeiter Lech Walesas und zum Spiritus rector der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc, selbst als diese verboten und Kriegsrecht verhängt worden war. Zweimal wurde er verhaftet, verbrachte insgesamt anderthalb Jahre im Gefängnis, blieb aber in der weiteren innenpolitischen Entwicklung einer der Architekten der Demokratisierung seines Landes. Mit Menschen wie ihm startete in Warschau die samtene Revolution der Tschechoslowakei, die Öffnung der Berliner Mauer und der berühmte Völkerfrühling.
Zeit seines Lebens versucht Bronislaw Geremek Brücken zu schlagen und zu vermitteln: zwischen Polen und Deutschen, Vergangenheit und Zukunft, Ressentiments und Toleranz. Wie kaum ein anderer trägt er mit dazu bei, daß sich die Beziehungen der europäischen Völker freundschaftlich gestalten und den Geist des Mißtrauens, der Furcht und der Befangenheit hinter sich lassen. Der Name Geremek steht für die Gemeinsamkeiten der europäischen Ideale, für den großen Traum der Einheit in Frieden und Freiheit. Heute wirbt Bronislaw Geremek für die Integration Polens in die Europäische Union, verhandelt den NATO-Beitritt und steht als Vorsitzender der OSZE für den Zugang der Mitteleuropäer zu den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Institutionen des sich einigenden Europas.
Der Karlspreisträger 1998 ist ein Symbol nicht nur für das Ende des Kalten Krieges, sondern auch für den Sieg der Moral und der fundamentalen Werte, die der Schaffung der Europäischen Gemeinschaft zugrunde gelegt werden müssen. Menschen wie er bringen ein belebendes Element in die europäische Idee und verleihen den Werten und Zukunftsvisionen, die in den westlichen Ländern bereits zur Alltäglichkeit oder zur Routine gehören, frische Kraft. Bronislaw Geremek, der polnische Patriot und europäische Bürger ist eine Leitfigur für den gemeinsamen Weg Europas in das nächste Jahrtausend.
Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen ehrt mit ihm einen großen Europäer. Sein wissenschaftliches Werk und sein politisches Engagement reichen über die Grenzen zwischen Staaten und Völkern, zwischen Ideologien und Konfessionen. Seine Visionen, seine Pläne für Europa werden unserer Verantwortung gerecht, die wir für die Zukunft tragen.
Herr Prof. Geremek, wir danken Ihnen und gratulieren von Herzen zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen.