Hoch verehrter Herr Staatspräsident!
Herr Oberbürgermeister!
Sehr verehrte Gäste!
Der Karlspreis der Stadt Aachen ist am Himmelfahrtstag 1950 zum ersten Mal für die ?beste Leistung im Dienst der Verständigung und der internationalen Zusammenarbeit im europäischen Raum? verliehen worden. Er fiel damals dem Manne zu, der das Verdienst hat, den europäischen Gedanken schon früh in breiten Volksschichten erweckt zu haben, dem Grafen Coudenhove-Kalergi. In regelmäßiger Folge haben ihn seither große Männer erhalten, die sich um Europa besonders verdient gemacht haben. Zur heutigen Wiederkehr dieses feierlichen Aktes ist mir die Ehre zuteil geworden, die Glückwünsche der Bundesregierung zu überbringen.
Ich empfinge dies als eine besondere Auszeichnung, denn der diesjährige Preis ist – zum ersten mal seit seiner Einsetzung – dem höchsten Repräsentanten eines uns nahe befreundeten europäischen Volkes verliehen worden. Wir danken dem italienischen Staatspräsidenten herzlich dafür, daß er sich bereit gefunden hat, nach Aachen zu kommen, um diese Auszeichnung entgegenzunehmen.
Für die Bundesregierung bietet der heutige Festakt Gelegenheit, Ihnen, hochverehrter Herr Staatspräsident, für Ihr unermüdliches Wirken zugunsten der europäischen Einheit und für eine Vermehrung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern Dank zu sagen. Die Bundesregierung sieht in der Auszeichnung Ihrer Person eine Demonstration der Zusammengehörigkeit der europäischen Völker und zugleich einen Beweis der deutsch-italienischen Freundschaft.
Die europäische Einigung ist auch Ihr Werk, verehrter Herr Staatspräsident. Sie haben als Leiter der italienischen Außenpolitik, als Chef mehrerer Regierungen und in dem höchsten Amt der Italienishcen Republik immer wieder dazu beigetragen, den Prozeß des europäischen Zusammenschlusses zu beschleunigen. Den europäischen Völkern ist nach dem Zweiten Weltkrieg die Aufgabe gestellt worden, sich zu einer neuen, größeren Einheit zu vereinen.
Auch der Parlamentarische Rat, der am 8.5.1949, vor nunmehr 15 Jahren, die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland verabschiedete, hat dieser Aufgabe Rechnung getragen, indem er einen Artikel formulierte, der den Bund zur Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen mit einfacher Mehrheit berechtigte. Das war ein wesentlicher Einschnitt in unser Verfassungsdenken.
Als die Sechs 1950 den Weg der Integration einschlugen, taten sie es in der Hoffnung und in der Gewißheit, daß ihr Entschluß über kurz oder lang auch von jenen Völkern geteilt werden würde, die damals eine Beteiligung ablehnten. Hierin haben sie recht behalten. Wenn wir auf dem Wege zu einer Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften auch Rückschläge erlitten haben, so zweifeln wir nicht daran, daß der Wille, dieses Ziel zu erreichen, lebendig bleiben wird, und daß sich immer mehr europäische Völker zum Wohle unseres Kontinents im Rahmen des Gemeinschaften zusammenfinden werden.
Wenn wir dieses Ziel verwirklichen wollen, dann muß es unser ständiges Bemühen sein, auch die innere Entwicklung der Gemeinschaften zu vervollkommnen. Diese Forderung liegt nicht nur im Interesse der Mitgliedstaaten, sondern ebenso sehr im Interesse der anderen, die noch nicht Mitglieder geworden sind. Ihr Wunsch auf Beteiligung beruht auf der Tatsache, daß die Europäischen Gemeinschaften sich bewährt haben. Würden sie jetzt versagen, oder in ihrer Entwicklung stagnieren, so entfiele auch für die übrigen Staaten der Reiz und der Ansporn zur Teilnahme.
Zugleich müssen wir uns um den Zusammenschluß zwischen unseren Völkern im politischen Bereich bemühen. Er stellt die notwendige Ergänzung der wirtschaftlichen Integration dar. Erst durch ihn erhält das bisher Geschaffene seinen eigentlichen Sinn. Erst wenn sich jeder einzelne Angehörige unserer Völker zugleich als Bürger Europas fühlt, ist der mit den Europäischen Gemeinschaften begonnene Prozeß abgeschlossen. Bis dahin sind noch zahlreiche Schritte erforderlich. Es könnte sein, daß das Ziel sich von uns entfernt, wenn wir zu langsam voranschreiten und daß wir die Stunde Europas versäumen, wenn wir zögern. Die Gründer des Karlspreises hatten sich zugleich zum Ziele gesetzt, ?durch den jährlich sich wiederholenden Appell an die öffentliche Meinung den Gedanken der Vereinigten Staaten von Europa zu fördern?. Wir alle sollten von dieser Feier die Verpflichtung mit an unsere jeweilige Wirkungsstätte nehmen, noch entschlossener als bisher auf dem Weg der europäischen Einigung vorwärts zu schreiten. Während wir so das begonnene Werk fortzusetzen und zu festigen suchen, werden wir zugleich alles in unseren Kräften stehende tun, um entsprechend dem offenen Charakter unserer Gemeinschaften, denen, die sich ihnen anschließen wollen, die Möglichkeit dazu zu geben, und in der Zwischenzeit die zwischen ihnen und uns noch bestehenden Schranken so weit wie möglich abzubauen.
Dabei sollten wir unseren Blick auch über das heutige frei Europa hinaus lenken; denn auch Mittel- und Osteuropa gehören geopolitisch und kulturhistorisch zu dem in Jahrhunderten gewachsenen Europa. Für uns Deutsche ist die Erweiterung des europäischen Gedankens auch auf Mittel- und Osteuropa von besonderer Dringlichkeit: Mit Berlin ist Deutschland und mit Deutschland ist Europa geteilt. Eine Wiedervereinigung unseres geteilten Vaterlandes ist nur im Zusammenhang mit der Entstehung eines größeren Europas erreichbar. Europa wiederum kann keine Stabilität finden, solange Deutschland im Herzen Europas geteilt und die Verbindung zu den östlichen Völkern und Staaten nicht fester geknüpft ist. Das Europa, das wir zur Zeit bauen, soll nicht etwas Endgültiges sein. Sein Ziel darf nicht innere Selbstgenügsamkeit sein. Es muß sich nach außen wenden und bemüht sein, Brücken zu allen europäischen Menschen zu schlagen.
Hochverehrter Herr Staatspräsident, namens der Bundesregierung übermittele ich Ihnen die herzlichsten Glückwünsche zu der Ihnen erwiesenen Ehrung. Möge sie Ihnen Stärkung und Ansporn bei der Erfüllung Ihrer Aufgaben im Dienste des italienischen Volkes und Europas sein.