Zutiefst bewegt, habe ich soeben in diesem Saal die verbindlichen und erhabenen Worte vernommen. Meine Dankbarkeit für den Beschluß der Stadt Aachen, mir den Karlspreis zu verleihen, könnte nicht größer sein; diese Stadt ist das lebende Symbol eines der größten Ideale unserer Kultur, die im wesentlichen die Roms und des Karolingischen Reiches ist: das Ideal eines geeinten Europas gleicher Kultur. Ich sehe hier hochbedeutende Persönlichkeiten versammelt, die mit ihrer Anwesenheit haben unterstreichen wolle, wie lebendig und aktiv dieses Ideal ist; hier klingt noch das Echo der Worte jener berühmten Persönlichkeiten wieder - einige von ihnen sind bereits in die Geschichte eingegangen -, die in den vergangenen Jahren hierher gekommen sind, um denselben Preis in Empfang zu nehmen, und die - jede für sich - einen außerordentlich hohen Beitrag zur europäischen Sache geleistet haben: Coudenhove-Kalergi, Brugmans, de Gasperi, Monnet, Adenauer, Churchill, Spaak, Schuman, Bech, Hallstein, Heath. Vor allem aber gehen meine ehrerbietigen Gedanken zu den beiden nicht mehr auf Erden weilenden großen Männern zurück, Robert Schuman und zu Alcide de Gasperi, der unser Lehrer auf diesem Weg war.
Meine Dankbarkeit entspringt in besonderem Maße dem Umstand, daß man mit diesem Preis die Arbeit, die mein Land bisher für die Verwirklichung der europäischen Einigungsbestrebungen getan hat und weiterhin zu tun beabsichtigt, in feierlicher Form anzuerkennen gedachte. Hinzu kommt das Gefühl, daß durch die edle Initiative, die in der Verleihung des Karlspreises ihren Ausdruck findet, der europäischen Sache ein wertvoller Dienst erwiesen wird: Ermutigung und Ansporn für alle, die an sie glauben - so wie ich fest an sie glaube. Doch gestatten Sie mir, einen Augenblick bei der Tragweite und der Bedeutung dieser Sache zu verweilen.
Karl der Große verkörpert den wiedergefundenen Lebensstrang der Kultur, die inmitten des durch die Völkerwanderungen heraufbeschworenen Chaos eine lange Geschichtsperiode hindurch verlorengegangen war. Nachdem die Risse zwischen den diesseits und jenseits des Rheins entstandenen Nationen ausgeheilt, die Angriffe von außen zurückgestoßen und Recht und Staat wiederhergestellt waren, kam er nach Rom, wo er jenes Charisma der Universalität erhielt, das ihn zum Erben einer geeinten, auf der Pax Romana und der christlichen Moral begründeten Welt werden ließ. Die Ideale, die an jenem weit zurückliegenden Weihnachtstag des Jahres 800 zur Krönung Karls des Großen in Rom führten, stammten von dem auf eine höchst vollkommene Rechtsordnung gestützten und praktisch auf die ganze damals bekannte Welt ausgedehnten römischen Staat her, sowie von der Kirche, die dieser Kultur solche erhabenen Fermente menschlichen Fortschritts gebracht hatte. Auch wenn das von Karl dem Großen gegründete Reich nicht von langer Dauer war, so lebten doch viele seiner Ideen fort, die jenem Aufbau zugrundelagen. So sind Rom und Aachen durch ein direktes Band verbunden. Das Gedankengut, das beide Städte so eng vereint, ist das Kernstück unserer Kultur, um das sich im Laufe der Jahrhunderte allmählich all jene Prinzipien entwickelt haben, die wir heute nicht nur schützen und verteidigen, sondern auch vervollkommnen, immer wirksamer machen und zum Wohle der Menschheit in der Welt verbreiten wollen.
Heute müssen wir alle völlig neue Situationen meistern, ungeheure Gefahren, Probleme, die wir getrost als existentiell bezeichnen können, und die Entscheidungen erheischen, die über die nationalen Schranken hinausgehen. Dies alles erfordert von jedem einzelnen ein Verständnis - das ich übermenschlich nennen möchte - für die Bestrebungen der von Hunger und Entbehrungen geplagten großen Masse, wie der Völker, die mehrmals den Einfall fremder Mächte kennengelernt haben oder immer noch in ihrem nationalen Gefüge an den harten Folgen des Krieges leiden.
Heute, wie zur Zeit Karls des Großen, kommt uns ein wirksamer Ansporn von jener großen geistigen Kraft, die das Christentum ist: als naturgemäßer, zur Verbrüderung der Völker und zu wahrer und friedlicher Universalität treibenden Kraft.
Ein geeintes Europa bedeutet daher für uns Europäer, die wir ein und derselben Kultur angehören, nicht eine materielle Nebeneinanderstellung der verschiedenen Staaten, sondern die Errichtung einer harmonischen, politischen, ökonomischen und sozialen Entität, Trägerin einer einzigen Kultur: Vereinigung von Freiheit, Gerechtigkeit, Ordnung im Fortschritt, materielle und moralische Kraft zugleich, und fähig, die eigenen Sicherheit zu gewährleisten, der Außenwelt jedoch offenstehend, ja der Außenwelt gleichsam entgegengestreckt und vor allem wirksames Werkzeug der Befriedung.
Diese Vereinigung setzt natürlich die freie Zustimmung der beteiligten Nationen voraus, von denen jede einzelne sich zu Recht ihre Unabhängigkeit, ihre besonderen Merkmale und die Freiheit einer autonomen Stellung bewahren möchte. Nichts ist daher der europäischen Idee fremder als die hegemonistische Auffassung, die wir entschieden ablehnen. Aber die höchsten Ideale lassen sich nur in einem langen, arbeitsreichen Prozeß verwirklichen, der zugleich Festigkeit in der Zielsetzung und Elastizität in der Wahl der Methoden, Klarheit der Prinzipien und Realismus, Ausdauer, Abstufung und zweckdienliche Verhaltensweisen erfordert. Nichts ist schädlicher als ein zu starrer Doktrinalismus, als eine oberflächliche Impulsivität, insbesondere wenn es darum geht, jahrhundertealte, gleichsam zur zweiten Natur gewordene Traditionen und Unterschiedlichkeiten der Interessen zu überwinden, so begreiflich diese auch sein mögen.
Und wenn wir auf den zurückgelegten Weg blicken, finden wir bald das Ausmaß der im europäischen Einigungsprozeß zu überwindenden Schwierigkeiten, sodann er auch die Notwendigkeit dieses Prozesses bestätigt – andernfalls würden wir dem endgültigen Verfall Europas entgegeneilen. Es sei jedoch auch festgestellt, daß beachtliche Fortschritte gemacht worden sind: der Europarat, die Montan-Union, die WEU, der Gemeinsame Markt, die Euratom, die Europäischen Parlamentarischen Versammlungen stellen viele Etappen, viele Eroberungen dar, die es uns erlauben, allmählich von Formen rein assoziativer Zusammenarbeit zu den eigentlichen integrativen Formen überzugehen, in denen die hochdemokratische Auffassung, daß der gemeinsame Wille von der Mehrheit bestimmt wird, ihre erste und notwendige Anwendung findet.
Einem katastrophalen Weltbrand entronnen, hat Europa seine unerschöpfliche Lebenskraft bewiesen, nicht allein mit seinem Elan zum Wiederaufbau, für den diese Stadt – wie übrigens ganz Deutschland – ein leuchtendes Beispiel ist, nicht nur mit seiner wirtschaftlichen Entwicklung und seinem sozialen Fortschritt, sondern auch mit seiner Fähigkeit, sich den Forderungen der modernen Welt anzupassen, d.h. unter Überwindung tragischer Rivalitäten, die es jahrhundertelang bis in unsere Tage zerfleischten, und indem es begann, auf einheitlichen Grundlagen sein Schicksal zu schmieden, seine Verteidigung gegen Angriffe von außen zu festigen, das System seiner wirtschaftlichen Beziehungen und der geistigen Zusammenarbeit mit den allmählich zu Protagonisten der Weltgemeinschaft aufgestiegenen neuen Völkern radikal umzuändern.
Jener „universalis ordo“, der die Grundidee des Reiches Karls des Großen bildete, erscheint heute wieder als eine von den neuen Weltbedingungen gebotene Notwendigkeit. Aber während das damalige Europa in sich selbst jenes Universum darstellte und daher ein Zweck war, kann das heutige Europa – wie ganz richtig bei einer anderen, analogen Gelegenheit betont wurde – nur ein Mittel sein. Ich wiederhole daher: Europa kann und will sich daher nicht abkapseln. Und außerhalb seiner von der gemeinsamen Kultur gestreckten Grenzen strebt es auch danach, sich in eine größere Gemeinschaft einzufügen, der andere (auch nicht-europäische) Staaten angehören, mit welchen es schon durch viele Interessen und Ideale, sowie durch das lebenswichtige Band der gemeinsamen Sicherheit verbunden ist. Im Rahmen der europäischen Organe ist der Gemeinsame Markt die bisher konkreteste und bedeutendste Tatsache. Als Unterzeichner der Römischen Verträge von 1957 habe ich hernach an den zahlreichen Verhandlungen zur Realisierung der von den Verträgen vorgesehenen Entwicklungen teilgenommen und, zumindest teilweise, auch an den Verhandlungen zur Ausdehnung derselben auf verschiedene andere Länder. Ich halte es für wesentlich, daß diese Ausdehnung stufenweise stattfindet. Der Gemeinsame Markt mit seinen fast 200 Millionen Einwohnern, mit seinen natürlichen Hilfsquellen und mit seinem Produktionspotential bildet bereits eine große Macht. Er stellt eine konkrete Wirklichkeit dar, die zu erhalten und zu entwickeln für uns von Lebensinteresse ist. Aber der vorbehaltlose Beitritt anderer Länder zur EWG würde einen neuen Impuls mit unermeßlichen Folgen bedeuten. Selbstverständlich wünschen wir auch, daß neben dieser wirtschaftlichen Gemeinschaft eine größere Gemeinschaft erwachse, deren – ich gestehe es – fernes Endziel die Vereinigten Staaten von Europa sein sollen. Es ist allen bekannt, daß wir dieses höchste Ziel nicht als Machtinstrument verstehen, als Bildung eines eigenständigen, mit den Superweltmächten konkurrenzfähigen Blocks, sondern als Werkzeug des inneren Zusammenhaltes und des Friedens: als Beitrag zur Lösung der beängstigenden Probleme, die einen so großen Teil der Menschheit auf die Probe stellen. Und unseren überseeischen Freunden gegenüber wollen wir nicht nur treue, sondern auch starke Verbündete sein. Europa, die NATO, die Atlantische Gemeinschaft, sind so als ein einziges Ganzes zu verstehen, dessen wesentliches Ziel es ist, die Entwicklung einer friedlichen Welt, frei von Egoismen, Rivalitäten und Befürchtungen, zu fördern, dabei ganz der eigenen materiellen Entwicklung und der eigenen sittlichen Erhebung ergeben.
Wir, die wir ein Vereintes Europa anstreben, müssen es verstehen, in unseren Völkern eine Welle der Begeisterung auszulösen, die den politischen Willen zur Bildung Europas zu prägen imstande sein muß. Nur die großen Bewegungen der öffentlichen Meinung können die Voraussetzungen schaffen, auf denen die Regierungen mutig etwas Dauerhaftes aufzubauen vermögen. Angesichts der großen Wendepunkte der Geschichte zählt der idealistische Impuls weit mehr als die kühle Berechnung und die Staatsräson im üblichen Sinne.
Blicken wir mit Zuversicht auf das Morgen, handeln wir so, daß wir den folgenden Generationen greifbare Resultate hinterlassen können, die für sie ein Ausgangspunkt für weitere Fortschritte sein mögen, die es ermöglichen sollen, eine gerechte und blühende Welt zu schaffen.