Selten haben wir die Symbolkraft dieser schönen Feier, in der der Karlspreis der Stadt Aachen verliehen wird, so stark empfunden wie heute.
Der hohe Gast, der diesmal damit bedacht wird, kommt aus Rom. Es ist nicht schwer, die Gedanken zu erraten, mit denen er aus diesem Anlaß die Reise in die römische Stadt Aachen angetreten hat. Uns jedenfalls wird mit großer Unmittelbarkeit und starker Eindringlichkeit bewußt, was Rom für Europa, was es den Europäern bedeutet. Rom, die ewige Stadt, ist zugleich die stärkste Verkörperung des ewigen Europa. Andere Städte sind europäische Vergangenheit, europäische Gegenwart oder europäische Zukunft. Rom ist die europäische Quelle, ist die Heimat aller Europäer, ist die ungekrönte, unproklamierte Hauptstadt.
Seit Leopold von Ranke nennt man Antike, Christentum und Germanentum die Voraussetzungen Europas, und wo wäre diese Wahrheit glaubhafter als hier in der Stadt Karls des Großen. Darin kommt schon zum Ausdruck, daß wir ein Doppeltes meinen, wenn wir von der Einheit Europas reden.
Wir meinen einmal eine historische Tatsache: die Tatsache eines gemeinsamen Schicksals, im Guten wie im Bösen, gemeinsamen Tuns und gemeinsamen Leidens, aber auch eine in einem gewachsene Kultur, die Tatsache also, daß die Europäer immer das Bedürfnis gehabt haben, das gleiche für wahr, für gut, für schon zu halten, daß sie seit Karls des Großen Zeiten ein kulturelles Leben geführt haben – in der Kirche, in der Ritterkultur, in der Universität - die die venia ubique legendi verlieh, das Recht, in ganz Europa zu lehren - in den Bauhütten und Malerschulen, im römischen Recht.
Wir meinem, wenn wir Europa nennen, aber noch ein Zweites: das ist der universale – man kann auch sage: der absolute – Zug europäischen Wesens. Was der Europäer sucht, ist nicht nur das für seine Zeit und seien Raum Gültige; es ist das allgemein Verbindliche. Er ist von Natur ?Perfektionist? – um ein Wort zu gebrauchen, das infolge seltsamer Gedankenverkettungen einen pejorativen Geschmack bekommen hat. Das ist die Stärke, der Ruhm des Europäers. Das ist die Ursache der Strahlungskraft Europas. Darum gibt es eine in Europa wurzelnde ?abendländische Kultur?, eine ?Western Civilisation?, die weit über den europäischen Raum hinausreicht.
Eben diese universalen Gehalte europäischer Kultur aber weisen uns auf Rom hin. Als christliches Zentrum ist es unübersehbar und unüberhörbar. Wesentliches antikes Kulturgut ist über Rom tradiert worden – in lateinischem Gewande, in einer Sprache also, die uns beinahe das Denken abnimmt; seitdem ist die lateinische Kultur auf der Erde unverwüstlich eingepflanzt. Gewaltig ist das Vorbild der römischen Staatskunst. Das römische Recht wurde lange schlechthin als die ?ratio scripta? verstanden. Auf italienischem Boden wurde es zuerst neu belebt und gelehrt, um der ganzen Gesellschaftsordnung der europäischen Neuzeit seien Stempel aufzudrücken.
Ich erinnere an das alles nicht, um ins Objektive zu enteilen, wo meine Aufgabe doch heute ist, die Persönlichkeit des zu Ehrenden zu würdigen, eine Persönlichkeit, so verehrungswürdig und so liebenswert, daß sie zur Beschreibung einlädt, zur Huldigung nötigt. Im Gegenteil. Ich tue es, weil es zum Thema gehört. Man kann der Person des Europäers Antonio Segni nicht gerecht werden, ohne ihren tieferen Wurzeln nachzuspüren. Dann aber dürfen wir uns nicht nur an seine politischen Taten halten.
Antonio Segni kommt geistig aus der Welt der europäischen Universität. Es ist notwendig, darauf zu achten – und es wird es dem deutschen Professor nicht verdacht werden, wenn er es tut. Die Universität indessen ist eine ganz originäre europäische Schöpfung. Hier ist der Gedanke zuerst gedacht und in die Wirklichkeit umgesetzt werden, die Wissenschaft autonom zu machen, die Erforschung der Wahrheit in die freie Verantwortung von Menschen zu legen, die sich in diesem Dienste zu einer unabhängigen Körperschaft verbinden. Europäisch im vollen Sinne des Wortes war denn die Universität auch im Zeitalter ihrer Entstehung, im zwölften und dreizehnten Jahrhundert. Ihre Schüler kamen aus ganz Europa, und auf ganz Europa wirkte sie. Im Grunde ist das auch später so geblieben, als sich eine nationale ?Universitätspolitik? entwickelte. Auch wenn heute der schöne Gedanke, die europäische Einigungspolitik unserer Zeit durch eine in der Form europäische Universität zu krönen, in einem seltsamen Anfall politischer Kleingärtnerei vorläufig zerbröckelt ist, so ist das höchstens symptomatisch ernst zu nehmen; wollten in einem Zeitalter kräftiger europäischer Vitalität sich ausgerechnet die Universitäten als müde erweisen? Gleichviel: Auch diese Entwicklung ist unaufhaltsam.
Professor Antonio Segni ist durch den unbestechlichen Dienst an der Wahrheit geprägt, der das eherne Gesetz der Universität ist; und wenige Berufe haben eine prägende Kraft, die der der Universität vergleichbar ist. Er hat dieses Gesetz auch während des totalitären Regimes in seinem Lande nicht verraten, das für ihn eine Periode völliger politischer Enthaltung bedeutete. Er bezahlte dafür durch die Unterbrechung einer glänzenden Karriere; eine Berufung an eine große Universität scheiterte, indem die Regierung gegen den Willen der Fakultät eine politische Ernennung vollzog. Schließlich wurde ihm ein großer Lehrstuhl an der Universität in Rom zuteil. Das Prozeßrecht wurde sein Hauptarbeitsgebiet, jene höchst sensible Materie, die ein geistreicher Jurist ?das Recht des Rechts? genannt hat. Mit ein wenig Neid und mit Beschämung habe ich jahrelang verfolgt, daß selbst hohe politische Ämter ihn nicht davon abhielten, seine Vorlesungen fortzusetzen. Er verstand wie wenige, daß die im Gang befindliche Einigung Europas nicht eine Sache des Machtgebrauchs ist, sondern eine große geistige Leistung: Denn zum ersten Mal wird der Versuch gewagt, nur die Kraft der Vernunft, der Überzeugung dafür einzusetzen. Und wenn Minerva in Kriegswaffen dem Kopf des Jupiter entsprang, so entsteht das neue Europa, in die Waffen des Rechts gekleidet. Als ein kostbares Zeugnis für jenes Bewußtsein bewahre ich einen wissenschaftlichen Schriftwechsel mit dem Gelehrten Segni, der schon in die Zeit seiner Präsidentschaft fällt.
Auf solchem Fundament ruht die Arbeit des Politikers Antonio Segni. Sie führte ihn durch einige der wichtigsten Ressorts: Die Landwirtschaft, die seiner jahrelangen Bemühungen entscheidende Reformen verdankt (ohne ihn wäre wahrscheinlich auch die Organisation der Vereinten Nationen für die Landwirtschaft heute nicht in Rom), die Justiz, die Erziehung, die Verteidigung, die Auswärtigen Angelegenheiten, und zweimal zur Ministerpräsidentschaft, bis er 1962 in das hohe Amt des Präsidenten der Republik berufen wurde, das er heute bekleidet.
In allen diesen Stellungen hat Präsident Segni seinem italienischen Vaterland unschätzbare Dienste geleistet. Aber zugleich vollstreckte er den Auftrag, der dem italienischen Staat von seien geistigen Urhebern in die Wiege gelegt war. Den ?Vorläufer der großen europäischen Föderation? nannte Giuseppe Mazzuini schon 1831 in seinem ?Manifesto della Giovane Italie? die Einheit Italiens. Diese Föderation muß nach seinen Worten ?in einem einzigen Bund alle Familien der alten Welt zusammenfassen?. ?Die Föderation der freien Völker?, fährt er fort, ?wird die von Despoten gewollte und geschürte staatliche Zersplitterung beseitigen, und so werden die Rivalitäten der Rassen verschwinden und sich die vom Recht gewollten Nationalitäten konsolidieren?. ?Diese Einheit?, so schreibt er am Ende seines Lebens, wird sich vollenden ?mittels der Fusion der Interesse, des Fortschritts des menschlichen Gedankens, der Bedürfnisse nach einem dauerhaften Frieden?. Wo in der Welt gibt es aus der Feder des Mitschöpfers eines Nationalstaats ein moderneres Programm!
Wie der Karlspreisträger Alcide de Gasperi hat Antonio Segni unermüdlich diesem Ideal gedient. Sein Name steht unter der Verfassung unserer Brüsseler Gemeinschaft, unter dem Vertrag, der als der ?Vertrag von Rom? in die Geschichte eingegangen ist. An wichtigen Beschlüssen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hat er danach als Außenminister mitgewirkt, und wir können ihn deshalb nicht nur den Taufpaten, sondern auch den Firmpaten unserer Gemeinschaft nennen. Ich denke besonders an die Entscheidungen, durch die der Schritt in die zweite Stufe unserer Übergangsperiode vollzogen wurde; die Erfahrung des alten Agrarministers kam dabei ebenso zum Vorschein wie Witz und aristokratische Weisheit des schönen, alten Sardinien, seiner Heimat. Wer einmal dort gereist ist, versteht übrigens, warum von da Föderalisten kommen!
Niemand hat klarer ausgesprochen, was ihn dabei bewegte, als der Präsident der Italienischen Republik Antonio Segni selbst in der Botschaft, die er bei Übernahme seines Amtes in der feierlichen Sitzung der beiden Kammern des Parlaments verlas. Ich übersetze:
?Italien hat wirksam beigetragen - und wird fortfahren, es zu tun- zu einer fortschreitenden Verwirklichung einer wahren europäischen Einheit, indem es die wesentlichen Keime einer politischen Gemeinschaft einwickeln hilft, die in den Verträgen von Rom enthalten sind .......
Die Richtung, in der sich die Geschichte entwickelt und die Menschheit fortschreitet, ist diese: Die neuen Bande, die sich in Europa knüpfen, werden die endgültige Überwindung alter, unfruchtbarer Gegensätze bedeuten und einen konkreten wirkungsvollen Beitrag zum Frieden, dem höchsten Streben aller Völker, und zu ihrer Freiheit.
Zu dieser neuen Organisation Europas drängt die Gegenwart. Für sie habe auch ich getreulich gearbeitet, um des Fortschritts und des Friedens willen, und ich vertraue darauf, daß ihre Verwirklichung die Politik der Regierung, des Parlaments und des ganzen italienischen Volkes sein wird.?
Herr Präsident! Wir begrüßen Sie mit allen guten Wünschen, mit herzlicher Freude und mit Stolz, wohl wissend: indem wir es tun, ehren wir nicht Sie, sondern uns.