Verehrte Festgäste,
Seit mehr als vier Jahrzehnten gründet die Gemeinschaft der europäischen Union auf Frieden, Freiheit, Demokratie und gegenseitiger Solidarität. Sie ist ein weltweit einmaliges Friedensmodell.
Aber: es ist derzeit Krieg auf dem Balkan. Die Verbrechen des Milosevic-Regimes, das dadurch verursachte menschliche Elend, aber auch die Ungewißheit über den Ausgang dieser Auseinandersetzung verursachen bei vielen Menschen Europas große Sorgen.
Im Angesicht der Greueltaten, die im Kosovo passieren, muß unsere Verantwortung für die europäischen Prinzipien eindeutig sein. Einheit und Frieden in Europa haben nur eine Zukunft auf der Basis der Menschenrechte. Wer diese Rechte brutal verletzt, fordert die Gemeinschaft zum Widerstand heraus.
Daß ein Volk vorsätzlich und von langer Hand geplant mit barbarischer Aggression vertrieben und verfolgt wird, daß es nahezu eine ethnische Auslöschung gibt, die Religion und kulturelle Identität von mehr als einer Million Einwohner zu zerstören sucht, ist für friedliebende Bürger nicht hinnehmbar.
Das Zusammenwachsen der Völker Europas kann nur gelingen, wenn Europa sich als Wertegemeinschaft versteht und diese Werte auch verteidigt.
Die aktuelle Krise läßt uns inständig hoffen, daß alle eingesetzten Mittel den Menschen auf dem Balkan endlich Frieden bringen und die politisch-diplomatischen Verhandlungen schnell erfolgreich sind.
Die Krise lehrt uns auch, daß wir die umfassende europäische Integration schneller vollenden müssen, als viele glauben, weil sie die einzige Zukunftsperspektive ist, die Krieg und ethnische Vertreibung auf Dauer ausschließt.
Die Europäische Union leistet derzeit auf dem Balkan vor allem den Flüchtlingen und Bedrängten humanitäre Hilfe.
Für uns Europäer muß es aber ebenso selbstverständlich sein, daß wir dort schon morgen zum Aufbau tragender politischer, ökonomischer und sozialer Strukturen einen viel größeren solidarischen Beitrag leisten müssen. Denn, meine Damen und Herren, Europa ist mehr als nur eine materielle Interessengemeinschaft oder der kleinste gemeinsame Nenner nationaler Egoismen.
Gestalten wir unser Europa als eine handlungsfähige Einheit, die Frieden und Freiheit, Verständigung, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit für alle Menschen gewährleistet.
Der Träger des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen im Jahr 1999 ist eine der Persönlichkeiten, auf der viele Hoffnungen für dieses Europa der Zukunft gerichtet sind.
Als führenden Europäer und pragmatischen Reformer, der für sein Handeln viele andere begeistern kann, begrüßen wir den Karlspreisträger 1999, den britischen Premierminister Tony Blair.
Mit ihm begrüßen wir die Preisträger früherer Jahre:
-den Nestor der Karlspreisträger aus dem Jahr 1963, den vormaligen britischen Premierminister Sir Edward Heath,
-für die Karlspreisträger 1969, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, den damaligen Vizepräsidenten Dr. Fritz Hellwig und den Kommissar Dr. Hans von der Groeben,
-den Karlspreisträger 1972 und früheren britischen Staatsminister, Lord Roy Jenkins,
-den Karlspreisträger 1977, den vormaligen Präsidenten der
Bundesrepublik Deutschland, Herrn Walter Scheel,
-die Karlspreisträgerin 1981, die erste Präsidentin des freigewählten Europäischen Parlaments, Madame Simone Veil,
-den Karlspreisträger 1997, den Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Prof. Dr. Roman Herzog.
Herzlich grüße ich in unserer Mitte den Premierminister der Republik Frankreich, Herrn Lionel Jospin, dem ich an dieser Stelle schon danken möchte für die große Ehre, die er uns mit der Laudatio auf den diesjährigen Karlspreisträger erweist.
Willkommen heißen wir die Ministerin für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Finnland, Frau Tarja Halonen, den Ständeratspräsidenten der Schweiz, Herrn Prof. Dr. René Rhinow, sowie den vormaligen Schweizer Außenminister, Herrn Flavio Cotti.
Herzlich grüße ich in unserer Mitte die Botschafter und die diplomatischen Vertreter der Länder Australien, Belgien, Bulgarien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Kolumbien, Lettland, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Schweden, Schweiz, Slowakische Republik, Slowenin, Spanien, Tschechische Republik, Ukraine, Weißrußland und Zypern sowie den deutschen Botschafter in Großbritannien und den ständigen Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union.
Wir freuen uns sehr über die Anwesenheit des Bundesministers der Verteidigung, Herrn Rudolf Scharping, dem unser großer Respekt für seine verantwortungsvolle Aufgabe in diesen Wochen gilt. Herzlich willkommen heißen wir auch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herrn Walter Riester.
Herzlich begrüße ich den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Wolfgang Clement, sowie den Landesminister Dr. Fritz Behrens.
Wir freuen uns über die Anwesenheit des Mitglieds der Europäischen Kommission, Frau Dr. Monika Wulf-Mathies, sowie des Oberbefehlshabers der Alliierten Streitkräfte Europa-Mitte, Herrn Joachim Spiering.
Sehr gerne begrüße ich die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, des Deutschen Bundestages und des Landtages NRW.
Herzlich willkommen sind uns meine Kollegen aus verschiedenen Städten Europas, die Vertreter der Kirchen, namentlich Bischof Dr. Heinrich Mussinghoff, der Religionsgemeinschaften und viele weitere namhafte Persönlichkeiten, die uns durch ihre Anwesenheit ehren. Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal oder an Radio und Fernseher teilnehmen, gilt der aufrichtige Gruß der Stadt Aachen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
bislang hat Vernunft vielfach Kompromisse geschafft, haben Binnenmarkt und Euro, haben Agenda 2000, Maastrichter Programm sowie andere Vereinbarungen ein Fundament errichtet, auf dem sich gut leben läßt.
Doch nun gilt es, Antworten zur Friedens- und Sicherheitspolitik, zur Demokratisierung der Institutionen und der Erweiterung vor allem auf Mittel- und Osteuropa zu geben.
Die Politik darf jetzt die sich bietende historische Chance nicht verstreichen lassen, den Fragen mit wirksamen Reformen zu begegnen.
Das große Europa wird das Friedensmodell für Gesamteuropa bilden und allen Staaten das gleiche Maß an Sicherheit geben, wenn es gelingt, die zahlreichen Minderheitenkonflikte vor der Erweiterung verbindlich zu regeln. Wir brauchen wirksame Instrumente der Konfliktprävention und vor allem eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik.
Das große Europa wird zum Schlüsselinstrument gemeinsamer Problemlösungen werden, wenn es gelingt, die Entscheidungsfähigkeit der Union zu stärken. Dafür ist die Balance unter den Mitgliedsstaaten, zwischen Groß und Klein, Reich und Arm zu erneuern und Handlungsräume für diejenigen Staaten zu schaffen, die eine größere Dichte der Integration verwirklichen wollen.
Das große Europa wird zur Initialzündung von wirtschaftlicher Modernisierung und gesamteuropäischer Wohlstandssicherung werden, wenn es gelingt, die Märkte konsequent zu öffnen, den Binnenmarkt ungeschmälert zu bewahren, Verteilungskonflikte wirksam zu regeln und protektionistische Tendenzen zurückzudrängen.
Das große Europa wird schließlich die Vitalität europäischer Nationen und die kreative Vielfalt seiner Kulturen bewahren, wenn es gelingt, die ethnischen, regionalen, nationalen und kulturellen Bezüge der Menschen als Reichtum europäischer Identität zu vermitteln.
Will Europa nicht scheitern, darf es nicht länger als technisch-pragmatisches Produkt ökonomischer Zwänge erscheinen. Es muß als Erfahrungsgemeinschaft vermittelt und in einem klaren politischen Willen der Völker sowie der Menschen verankert werden.
Europa ist ohne die Unterstützung der freien Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents nicht denkbar.
Gerade heute, wo man die Sehnsucht nach Frieden und Verständigung, nach Freiheit, Akzeptanz und Harmonie verspürt, darf die Chance zur Gestaltung der Einheit nicht verspielt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Großbritannien, die Insel mit großer und langer Tradition, hat für die europäische Gesellschaft wesentliche Beiträge geleistet. Die Briten haben als erste, schon im Jahre 1215, die Freiheitsrechte des Einzelnen und die Menschenrechte der berühmten Magna Carta schriftlich bestätigt, sie haben der Welt das Modell des demokratischen Parlamentarismus und die Dramen Shakespeares gegeben, den mechanischen Webstuhl und die Dampfmaschine, den Fußball, die Wochenzeitung, die Beatles und so vieles andere mehr.
Großbritanniens Einstellung zu Europa hat mit dem Regierungswechsel 1997 eine neue Dynamik erhalten.
Der britische Premierminister Tony Blair, der bereits 1975 in dem Referendum für Großbritanniens Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft stimmte, ist die Verkörperung dieser neuen und intensiven Hinwendung zu Europa.
Blair fordert - entgegen der vormaligen euro-skeptischen Haltung seiner Vorgänger - eine konstruktive Rolle für sein Land in der Union.
Unter Tony Blair wurde die europäische Sozialcharta unterzeichnet und die europäische Menschenrechtskonvention im britischen Recht verankert. Darüber hinaus will man, wenn auch verspätet, bei der Währungsunion mitmachen.
Auch die Verfassungsreformen, die Blair vorantreibt, sind eine Angleichung an die Rechtssysteme anderer europäischer Staaten. Die neue Regierung dezentralisiert und föderalisiert, führt für die
Europawahlen das Verhältniswahlrecht ein und schuf - nach kontinentalem Vorbild - eine unabhängige englische Zentralbank.
Blair steht darüber hinaus für eine Strukturreform der europäischen Arbeits-, Produkt- und Kapitalmärkte, für gemeinsame Anstrengungen der Unionsmitglieder zur Schaffung von Arbeitsplätzen, der Verbesserung der Ausbildung und der Nutzbarmachung von Forschung und Technologie.
Tony Blair spricht sich aber vor allem für ein "Europa der Bürger" aus, das die sozialen Interessen und Nöte der Menschen ebenso wie ihre kulturellen Bedürfnisse ernst nimmt. Er will den weitverbreiteten Mangel an Vertrauen in die europäischen Institutionen beheben, die große Distanz zu den Sorgen der Bevölkerung mindern und die Demokratiedefizite beseitigen.
Tony Blair meint es ernst, wenn er fordert: "Gebt Europa den Menschen zurück."
Sein neues Engagement für Europa hat sich auch in vielen bilateralen, ebenso in den intensiven und regelmäßigen Konsultationen mit Frankreich und Deutschland gezeigt. Gerade dieses für Europa so wichtige Dreiecksverhältnis wird durch ihn neu belebt, aber auch mit neuer Verantwortung beladen.
In der Frage des Nordirlandkonflikts ortete Tony Blair eine der zentralsten und schwierigsten Herausforderungen für seine Regierung. Mit seiner mutigen Initiative im Herbst 1997 hat er den Weg für den ersehnten Frieden in Nordirland eröffnet. Er brachte - erstmals seit 1921 - die Parteien wieder an einen Verhandlungstisch und schuf die Grundlage für den Prozeß, der von den beiden Friedensnobelpreisträgern 1998, John Hume und David Trimble, fortgeführt wurde. Sein persönliches Engagement trug zum Friedensabkommen von Belfast bei - ein Durchbruch für die Provinz Ulster, der - so Tony Blair - "den Haß und die Furcht vieler Jahre, in denen die Menschen sich mißverstanden haben, durch die vorsichtige Wiedergeburt des Geistes des Vertrauens und der Freundschaft" ersetzen könnte.
Tony Blair ist ein Reformer, der jetzt schon historische Bedeutung besitzt, der Visionen formuliert, die nicht nur für Großbritannien, sondern für ganz Europa wegweisend sein werden.
Meine Damen und Herren,
das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen ehrt im Jahr 1999, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, mit dem britischen Premierminister Tony Blair einen herausragenden Politiker,
-der die Bedeutung des europäischen Einigungsprozesses für die Zukunft des Kontinents erkannt hat,
-der Großbritannien wieder näher an Europa heranführt,
-der die zukünftige Fortentwicklung des europäischen Integrationsprozesses im Rahmen der Europäischen Union aktiv und konstruktiv mitgestaltet,
-der durch seinen persönlichen Einsatz einen entscheidenden Beitrag zum Friedensprozeß in Nordirland geleistet hat und
-auf dem unsere Hoffnungen für einen baldigen Frieden auf dem Balkan in Freiheit, Demokratie und Humanität ruhen.
Herr Premierminister, ich gratuliere Ihnen ganz herzlich zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenfür das Jahr 1999.