Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Verehrte Frau Bundeskanzlerin!
Geehrte Gäste aus ganz Europa!
Das Fest Christi Himmelfahrt versammelt uns heute in diesem Aachener Mariendom. Wir haben die Botschaft des auferstandenen Herrn gehört. Es war in Galiläa auf dem Berg, den Jesus den Jüngern genannt hatte. Sie schwanken noch zwischen Glaube und Anbetung einerseits und zwischen Fragen und Zweifeln andererseits. Jesus tut den ersten Schritt auf sie zu; er richtet seine Botschaft an seine Jünger, eine Botschaft, die die Zeiten überdauert und gültig bleibt, eine Botschaft, die Auftrag und Verheißung des Herrn aller Zeiten enthält (Mt 28, 16-20).
"Mir ist alle Macht gegeben, im Himmel und auf der Erden." Die Macht ist nicht zu eigen gegeben den Mächtigen in Politik und Wirtschaft, in Kultur und Gesellschaft. Und es geht nicht an, dass die Macht das Recht hat, sondern, dass das Recht die Macht hat, auch und gerade in unserer Europäischen Union. Wenn Sie, die Sie im Oktogon des Domes sitzen, hinaufblicken, sehen Sie in der Kuppel das Bild Christi, des auferstandenen und wiederkehrenden Herrn, vor dem und vor dessen Evangelium Kaiser Karl der Große die ihm anvertraute Macht verantwortete, eine Sicht, die über 1.000 Jahre die europäische Geschichte bestimmte.
"Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde." Und er fügt den Auftrag an uns Christen hinzu: "Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe." Christsein und Jüngerschaft haben die Geschichte Europas zutiefst geprägt und eine Wertegemeinschaft geformt, in der Menschenwürde und Menschenrecht, in der Freiheit und Demokratie den Humus fanden, auf dem in Europa Humanität wachsen konnte.
Das letzte Wort, das Jesus uns auf dieser Erde sagte, ist seine Verheißung: "Ich bin bei euch alle Tage, bis zum Ende der Welt." Und das ist es, um was wir Christen in diesen neun Tagen zwischen Christi Himmelfahrt und Geistsendung an Pfingsten bitten, dass er uns seinen Heiligen Geist sendet, die Kraft von oben, den Beistand und Tröster mit seinen sieben Gaben, den Geist der Weisheit und der Einsicht, des Rates, der Erkenntnis und der Stärke, der Frömmigkeit und der Gottesfurcht, Gaben, die ich Ihnen erbitte, die Sie besondere Verantwortung in Europa tragen. Und ich wünsche Ihnen, dass Ihnen dieses Bild des auferstandenen und wiederkehrenden Christus aus dem Aachener Dom in Gedächtnis und Herz eingeprägt bleibt und dort seine heilsame Kraft in Ihrem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und demokratischen Handeln entfalte.
Sehr geehrte Frau Dr. Merkel! Ihnen wird heute der Internationale Karlspreis zu Aachen verliehen für Ihre Verdienste um Europa. Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland haben Sie den Ratsvorsitz in der Europäischen Union in der ersten Hälfte des Jahres 2007 genutzt, um dem gescheiterten Verfassungsvertrag und der nachfolgenden Lethargie neuen Schwung zu verleihen, dessen Frucht der Grundlagenvertrag von Lissabon am 13. Dezember 2007 ist. Ihr hoher Einsatz hat sich gelohnt, auch wenn nicht alle Ziele jetzt schon erreicht werden konnten.
Ich sehe es als einen besonderen Fortschritt an, dass das Vertragswerk von Lissabon die Werte und Ziele erweitert, denen sich die Union verpflichtet fühlt. Dazu gehört an erster Stelle auch die Menschenwürde, was wir besonders begrüßen - erwächst doch gerade die unverletzliche Würde eines jeden Einzelnen dem christlichen Menschenbild. Einen weiteren Beitrag zur Fortentwicklung der Europäischen Union zu einer Wertegemeinschaft bildet die Charta der Grundrechte, die nach ihrer Proklamation im Dezember 2000 bislang nur rechtserheblich war, deren Rechtsverbindlichkeit nun aber im Reformvertrag festgeschrieben ist, auch wenn Großbritannien und Polen Ausnahmeregelungen erwirkt haben. Zwar ist die Grundrechtscharta nicht in den Vertrag über die Europäische Union inkorporiert worden, allerdings bestimmt Art. 6 des Vertrages über die Europäische Union, dass "die Union .. die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, die in der Charta der Grundrechte ... niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte hat dieselbe Rechtsverbindlichkeit wie die Verträge".
Die katholische Kirche bedauert, dass die Präambel nur vom "kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas" spricht, aber den Beitrag des Christentums in Geschichte und Gegenwart verschweigt. Hier bleibt das Desiderat, die jüdischchristlichen Wurzeln Europas, und den Anteil des Islam zu benennen. Darüber hinaus hätten wir uns einen Gottesbezug in der Präambel gewünscht, weil er die Begrenztheit menschlichen und politischen Handelns verdeutlicht und Gott als letzte Appellationsinstanz über allen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Mächten benannt hätte. Ich weiß, dass Sie, Frau Dr. Merkel, diese Forderungen - soweit Sie konnten - immer unterstützt haben.
Wir sind auch dankbar, dass der Kirchenartikel nun als Artikel 16 c in den Vertrag über die Arbeitsweise der Union eingefügt wurde und damit die Schlusserklärung des Amsterdamer Vertrags (1999) in das Primärrecht der Europäischen Union übernommen und zur vollen rechtlichen Geltung gebracht wurde. Nach dieser Bestimmung achtet die Union den Status der Kirchen, wie er jeweils in der nationalen Rechtsordnung festgelegt ist, und versichert, in Zukunft einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den Kirchen zu führen, was einen institutionellen Rahmen eröffnet, der mit Leben und Inspiration zu erfüllen ist.
Sie, liebe Frau Bundeskanzlerin, haben aber auch deutlich gemacht, dass sich die Europäische Union nicht von der übrigen Welt abschotten darf, sondern Verantwortung für Entwicklung und Frieden in der Welt übernehmen will. Ich danke Ihnen für Ihr Engagement, das Gespräch mit den afrikanischen Staaten wieder aufzunehmen und die Entwicklung dieses Kontinents aktiv zu fördern. Ich danke Ihnen für Ihr Engagement, mit Israelis und Palästinensern zu verhandeln, um kleine Schritte auf etwas mehr Frieden und Sicherheit, Wohlstand und Arbeit zu gehen.
Liebe Schwestern und Brüder, sehr geehrte Verantwortliche in Europa! Richten wir unseren Blick noch einmal auf den auferstandenen, zu Gott erhöhten und einst wiederkehrenden Herrn, der für uns bei Gott ist. Der Apostel Paulus sagt uns im Epheserbrief: "Der Gott Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater der Herrlichkeit, gebe euch den Geist der Weisheit und Offenbarung, damit ihr ihn erkennt. Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid, welchen Reichtum die Herrlichkeit seines Erbes den Heiligen schenkt und wie überragend groß seine Macht sich an uns, den Gläubigen, erweist, durch das Wirken seiner Kraft und Stärke. Er hat sie an Christus erwiesen, den er von den Toten auferweckt und im Himmel auf den Platz zu seiner Rechten erhoben hat, hoch über alle Fürsten und Gewalten, Mächte und Herrschaften und über jeden Namen, der nicht nur in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen genannt wird" (Eph 1, 17-21).
Gott segne Sie alle für Ihr Leben und für Ihren Dienst an den Menschen. Amen.