Mit zuletzt atemberaubender Geschwindigkeit hat sich die ursprüngliche Gemeinschaft der Sechs zu einer Union der 27 entwickelt; einer Union, die heute beinahe den ganzen Kontinent umfasst. Je weiter aber die EU in ihrer Ausdehnung reicht, desto skeptischer, so scheint es, stehen ihr die Bürgerinnen und Bürger gegenüber. Und über die wirtschafts-, währungs- und sozialpolitische Integration, über Erweiterungsstrategien und manch andere tagespolitische Themen mehr sind bisweilen die viel wichtigeren Fragen nach den geistig-kulturellen Wurzeln des Vereinten Europas, seinen Grundwerten und seinem inneren Zusammenhalt aus dem Blickfeld geraten.
Wenn wir aber die Bürgerinnen und Bürger für eine weitere Einigung unseres Kontinents gewinnen und mitnehmen wollen, dann muss es vornehmstes Ziel sein, dass die Menschen ein Europa sehen, das geistig, moralisch und politisch wert ist, gebaut zu werden. Wir verfügen in der EU über die notwendigen materiellen Voraussetzungen, um unsere wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen. Aber ob wir die Zukunft gewinnen, ist ganz wesentlich eine Frage nach der geistigen Verfassung Europas und seinem inneren Zusammenhalt. Dabei geht es in erster Linie um immaterielle Werte, um unser Verständnis von Menschenwürde und Demokratie, Freiheit und Verantwortung – und damit immer auch um die Rolle der Zivilgesellschaft.
Denn Europa lebt nicht allein von Staaten, Regierungen oder Institutionen, sondern in allererster Linie von der Bereitschaft seiner Bürger, sich in die Gemeinschaft einzubringen, Position zu beziehen und Verantwortung zu übernehmen. Europa lebt durch die Menschen, die die europäischen Werte in der EU und darüber hinaus auch auf internationaler Ebene vertreten und ganz konkret vorleben.
In Würdigung eines herausragenden Beispiels zivilgesellschaftlichen Engagements für ein menschliches und – innerhalb wie außerhalb seiner Grenzen – solidarisches Europa, für die Verständigung von Völkern, Kulturen und Religionen und für eine friedlichere und gerechtere Welt ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahre 2009 den italienischen Historiker und Gründer der Gemeinschaft von Sant”˜Egidio, Prof. Dr. Andrea Riccardi.
„Wir besitzen kostbare Werte mit einem Reichtum an Freiheit, Glauben, Solidarität, Kultur und Menschlichkeit, die wichtig sind für die Zukunft der Welt. Wir dürfen uns nicht verirren, denn dann würde ein wichtiger Teil der Menschlichkeit in der heutigen Welt verloren gehen. Getrennt jedoch werden wir uns zerstreuen und verirren und das verlieren, wofür wir einstehen. […] Vereint, als in der Verschiedenheit vereinte Europäer, werden wir in der heutigen Welt eine freundliche und solide Kraft sein: eine Quelle der Menschlichkeit. Wir müssen die Leidenschaft für Europa und die einigende Kraft unter unseren europäischen Mitbürgern zum Wachsen bringen. Das ist keine vage Leidenschaft. Europäer in der Welt zu sein, wird zu einer Berufung. In dieser unserer Welt können auch wenige – und so wenige sind wir nicht – die Zukunft beeinflussen. Haben am 11. September 2001 wenige durch den Terrorismus die ganze Welt verwirrt und Tod gebracht, so können wenige oder viele mit dem Traum vom vereinten Europa vielen Europäern Frieden und Ideale anbieten. Das ist die europäische Menschlichkeit, die in der Lage ist, Frieden aufzubauen.“
Wenn Andrea Riccardi seine und seiner Mitstreiter Leitideen beschreibt, dann ist dies stets auch Ermutigung und Aufruf an die Europäer, sich kraft ihrer kulturellen und geistigen Traditionen aktiv an der Gestaltung einer friedlicheren und gerechteren Welt zu beteiligen.
Andrea Riccardi wurde am 16. Januar 1950 in Rom geboren und wuchs zeitweise in Rimini auf. Nach einem Studium der Rechtswissenschaften spezialisierte er sich auf die Zeit- und Kirchengeschichte; seit 1981 ist er als Hochschullehrer tätig. Nachdem er zunächst an der Universität Bari und an der Sapienza in Rom gearbeitet hatte, ist er heute ordentlicher Professor für Zeitgeschichte an der Università degli Studi Roma Tre. Zahlreiche Monographien zu wichtigen Fragen der neuzeitlichen Kirchen- und Christentumsgeschichte und einige Hundert Artikel dokumentieren das facettenreiche wissenschaftliche Interesse und die profunde Kenntnis unterschiedlicher religiöser, kultureller und politischer Strömungen in Geschichte und Gegenwart. Dabei gilt sein besonderes Interesse den Beziehungen zwischen den unterschiedlichen religiösen Welten und der Frage nach der Möglichkeit einer friedlichen religiösen Kohabitation diverser religiöser Traditionen, insbesondere im Mittelmeerraum des 19. und 20. Jahrhunderts.
Hohe internationale Beachtung findet Riccardi vor allem als „Spiritus rector“ der Gemeinschaft von Sant”˜Egidio, die er als Gymnasiast 1968 gemeinsam mit einigen Freunden in Rom gründete. Die katholische Laienbewegung wuchs sich in den vergangenen vier Jahrzehnten zu einem weltumspannenden Beziehungsnetz aus, das (nach eigenen Angaben – formelle Mitgliederlisten oder -ausweise gibt es nicht) über 50.000 Mitglieder zählt, die in mehr als 70 Ländern auf vier Kontinenten engagiert sind – wobei sich die Anhängerschaft nicht zuletzt aus jungen Menschen rekrutiert.
Neben dem gemeinsamen Gebet und der Weitergabe des Evangeliums haben sich die ehrenamtlich tätigen Mitglieder der Gemeinschaft die Freundschaft mit den Armen, die Ökumene und den Dienst am Frieden zum Ziel gesetzt. „Allein in Rom kümmern sich die Freiwilligen um 10.000 Menschen, um Immigranten, Obdachlose, Drogensüchtige oder um die immer zahlreicheren Alten und Familien, die mit ihren Einkünften im teuren Rom nicht mehr ans Ende des Monats kommen. Sie versorgt Sant’Egidio in seinen Zentren fünf Mal die Woche mit einem warmen Abendessen. Sie erhalten Sprachunterricht, Anwaltsberatung [und] ärztliche Hilfe“. (Süddeutsche Zeitung, 21.12.2007)
International nimmt sich die Gemeinschaft besonders der Aidskranken in Afrika an. So werden im Rahmen des von Sant’Egidio ins Leben gerufenen DREAM-Programms (Drug Resource Enhancement against Aids and Mulnutrition) zur Behandlung von Aids und der Bekämpfung der Unterernährung mehrere Zehntausend Menschen in Afrika betreut. Zahlreiche weitere Projekte humanitärer Not- und Katastrophenhilfe kennzeichnen das Engagement der katholischen Laien vor allem in Afrika, aber auch in Südamerika und Südostasien.
Weltweite Aufmerksamkeit erregten Riccardi und seine Mitstreiter spätestens zu Beginn der 90er Jahre. Über die Lieferung von Hilfsgütern und einfache Aufbauprojekte mit den Kriegswirren in Mosambik in Berührung gekommen, wurden sie zu Vermittlern bei den Verhandlungen, die nach mehr als anderthalb Jahrzehnten Bürgerkrieg zum Friedensschluss führten. Nach über zwei Jahre währenden Gesprächen – meist am Hauptsitz der Gemeinschaft, dem vormaligen Kloster Sant”˜Egidio im römischen Stadtteil Trastevere – wurde die Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen der Regierung in Maputo und der Renamo-Guerilla am 4. Oktober 1992 möglich, nachdem Riccardi und andere Mitglieder der katholischen Laien zwischen den Bürgerkriegsparteien ein Stück gegenseitiges Vertrauen hatten schaffen können. Der damalige UNO-Generalsekretär Boutros-Ghali prägte daraufhin anerkennend den Begriff von der „italienischen Formel“, eine in ihrer Weise einzigartige Mischung aus Regierungs- und Nichtregierungsaktivitäten im friedensfördernden Einsatz.
Solcherart in ihrem Engagement bestärkt, bemühen sich Riccardi und die Gemeinschaft Sant’Egidio seither „abseits der diplomatischen Hauptstraßen“ um die Vermittlung in einer Vielzahl von Konfliktherden in der Welt – in Algerien und Burundi, in Guatemala und im Kongo, in Uganda ebenso wie im Kosovo und in zahlreichen weiteren Krisenregionen. „Dass sich israelische Regierungsmitglieder und Repräsentanten der Palästinenser unter dem Dach von Sant’Egidio treffen, ist fast schon Routine, ebenso das öffentliche Gespräch der Repräsentanten von Gruppen, die einander im Libanon befehden. Doch mindestens ebenso ausführlich wie die Podiumsdiskussionen sind die vielen Gespräche hinter den Kulissen, deren Früchte vielleicht erst in einigen Jahren zu sehen sein werden.“ (FAZ, 20.11.2008)
Auch der Einsatz der „UNO von Trastevere“, wie die Gemeinschaft bisweilen genannt wird, für eine weltweite Ächtung der Todesstrafe findet ebenso internationale Anerkennung wie die seit rund zwei Jahrzehnten von Sant’Egidio organisierten jährlichen „Friedensgebete“. Inspiriert durch das von Papst Johannes Paul II. 1986 einberufene interreligiöse Gebet von Assisi, laden die katholischen Laien alljährlich hohe und höchste Vertreter der Weltreligionen, zahlreiche politische Verantwortliche, aber auch die breite Öffentlichkeit zu gemeinsamen Friedens- und Gebetstagen ein, um, so Riccardi, „in verschiedenen Sprachen und Kulturen [zu] sagen, dass nur durch den Dialog und die offene Diskussion mit den anderen es möglich ist, eine authentische Kultur des Zusammenlebens aufzubauen, die so lebensnotwendig ist für jede Gesellschaft von heute.“
Ob Ihres Einsatzes für den Frieden und der nachhaltigen Verdienste um den interreligiösen und interkulturellen Dialog wurden Sant’Egidio und Andrea Riccardi bereits vielfach ausgezeichnet, so unter anderem mit dem Weltfriedenspreis der Methodisten (1997) und der Mahatma-Gandhi-Silbermedaille der UNESCO (1999). Vier Jahre später rief das renommierte Nachrichtenmagazin „Time“ den Italiener zu einem „europäischen Helden“ aus.
Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen ehrt mit Prof. Dr. Andrea Riccardi einen großen Europäer, der sich im besten Sinne der Nächstenliebe und Nächstenhilfe in den Dienst seiner Mitmenschen stellt, der mit leidenschaftlichem Engagement für die Verständigung über alle konfessionellen und nationalen Grenzen hinweg eintritt und der mit der Gemeinschaft von Sant’Egidio einen bedeutenden Beitrag für eine friedlichere und gerechtere Welt leistet. In seiner rund 40-jährigen Arbeit hat Andrea Riccardi damit ein herausragendes und beispielgebendes Zeichen für die europäischen Werte des Friedens, der Solidarität und der Menschenwürde und darauf basierendes zivilgesellschaftliches Engagement für eine bessere Welt gesetzt.
„Aachen im Herzen Europas, reich an Geschichte und schon immer Knotenpunkt der Begegnung, wird die Hauptstadt des Friedens und Symbol der alten und neuen europäischen Realität sein: Dialog und nicht Konfrontation.“ Dieser von Andrea Riccardi formulierte Leitgedanke für das 2003 in Aachen abgehaltene Weltfriedensgebet soll auch das Motiv der Karlspreisverleihung 2009 sein.