Ich danke der Stadt Aachen und Ihnen, Herr Oberbürgermeister, als ihrem Vertreter für den Preis, der mir verliehen worden ist. Ich habe ihn gern angenommen, da ich ihn als eine Anerkennung ansehe, die, mehr als meiner Person, für die Aufrichtigkeit und die Ständigkeit der Bemühungen bestimmt ist, die mein Land in der Nachkriegszeit zusammen mit anderen europäischen Ländern der Sache der europäischen Wiedervereinigung gewidmet hat. Diesen Bemühungen hat mein Vorgänger beim Außenministerium, Graf Sforza, dessen zu gedenken Sie die Güte hatten, die letzte Zeit seines edlen Lebens, das ganz auf das Ideal einer höheren Form des Zusammenlebens der Völker eingestellt war, geweiht. Bei dieser Arbeit, die hier in Bundeskanzler Adenauer einen ihrer höchsten und wirksamsten Verfechter gefunden hat, sind Italien und Deutschland Seite an Seite, zusammen mit den anderen europäischen Regierungen in der Überzeugung diesen Weg gegangen, hiermit auch am besten ihren nationalen Interessen zu dienen.
Sie, Herr Oberbürgermeister, haben richtig an die besondere Bedeutung erinnert, die dieses große Ideal europäischer Gemeinschaft in dieser Stadt Aachen annimmt. Aachen war in der Tat eines der Zentren einer Völkergemeinschaft, das, indem es eine glückliche Verschmelzung der großen römischen Traditionen, der neuen christlichen Kultur und der sich in der Geschichte erschließenden frischen Energien verwirklichte, einem bis dahin von inneren Kämpfen zerrissenen Europa eine lange Zeit des Friedens und des Aufblühens, die Sicherheit vor den Drohungen des Ostens und ein kulturelles Wiederauferstehen, das nach Karl dem Großen benannt wurde, zu sichern wußte. Auch heute sehnt sich Europa, nach den traurigen Ereignissen, in die es durch einen unheilvollen und erbitterten Nationalismus gestürzt worden war und das so wie damals von aus dem Osten kommenden Gefahren bedroht ist, danach, der Einheit seiner Kultur und seiner christlichen Zivilisation ein konkretes politisches und wirtschaftliches Gepräge zu geben.
Der Weg, der zu der Verwirklichung dieses Ideals führt, ist weit und mühevoll, aber schon sind Fortschritte erzielt worden, die zu erhoffen noch
vor einigen Jahren unmöglich erschien. Die wirtschaftliche Vereinigung Europas ist schon in einem lebenswichtigen Abschnitt, wie dem der Kohle und des Stahls, verwirklicht worden, und wir hoffen, daß sie sich nach und nach auch auf andere Gebiete erstrecken möge, bis zur Schaffung eines einzigen europäischen Marktes, mit einheitlicher Währung und Bewegungsfreiheit für Waren und Personen. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist auch dabei, eine vollendete Tatsache zu werden; und in Straßburg sind kürzlich die Grundlagen für eine übernationale politische Behörde gelegt worden, die der Europäischen Gemeinschaft ihre vollendete politische Form geben wird.
Man kann dagegen einwerfen, daß es nur begrenzte Leistungen sind im Vergleich zu der Auffassung von einem Staatenbund, bei dem das übernationale Moment Landes- und örtliche Momente überwiegt. Aber die Geschichte lehrt, daß die Anfänge jeder übernationalen Vereinigung immer bescheiden gewesen sind, daß diese durch eine Notwendigkeit der Verteidigung von bereits durch enge wirtschaftliche, historische und kulturelle Bande vereinten Völker entstehen, daß anfangs die Dezentralisation der Macht im Inneren des Bundes so stark ist, daß die Tätigkeit der zentralen Bundesstellen schwach und zögernd wird, und daß nur die Zeit zentripetale Kräfte in Bewegung setzt, die dann schließlich den peripherischen Widerstand überwinden. Den Skeptikern möge es genügen, daran zu erinnern, daß selbst die Schweizerische Eidgenossenschaft, die jetzt als Muster eines erleuchteten und harmonischen Zusammenlebens in einem einzigen staatlichen Rahmen von Völkern verschiedener Sprache, Abstammung und Gebräuche gilt, mehr als sechs Jahrhunderte lang nach ihrer Gründung wenig mehr als eine dauernde Verteidigungsgemeinschaft geblieben ist, deren Bundestag nichts anderes als die Versammlung der Botschafter der Mitgliedstaaten war, das heißt, ungefähr das föderative Stadium, in dem sich bereits Westeuropa befindet. Seien wir deshalb optimistisch, da wir glauben, am Vorabend der Überwindung dieses Stadiums und der Bildung einer föderativen Behörde zu sein, die nicht ein gemeinsames Organ der Mitgliedstaaten, sondern Trägerin übernationaler Interessen und mit den entsprechenden Befugnissen versehen sein wird, und daß wir, dank des übereinstimmenden Willens der Regierungen, auf dem Wege jener höheren Form einer Konföderation sind, die anderswo nur durch eine langsame Entwicklung erreicht worden ist. Der Glaube daran und der Optimismus werden, wenn es sich darum handelt, ein großes politisches und menschliches Ideal, wie das der europäischen Wiedervereinigung, zu verwirklichen, zur konstruktiven Kraft.
Gleichen Schritts mit der Stärkung und Vermehrung der Macht der Bundeseinrichtungen müssen jedoch die Fortschritte einer europäischen Mentalität vor sich gehen. Die übernationalen Einrichtungen würden ungenügend sein und Gefahr laufen, ein Schauplatz des Wettbewerbs einzelner Interessen zu werden, wenn die an ihren Spitzen stehenden Männer sich nicht als Bevollmächtigte höherer und europäischer Interessen fühlen würden. Ohne die Schaffung dieser europäischen Mentalität würde eine jede unserer Formeln Gefahr laufen, eine leere juristische Begriffsbildung zu bleiben. Und gerade hier zeigt es sich, daß sich die Tätigkeit der Organisationen und Stiftungen, die, wie die Stadt Aachen den europäischen Gedanken zu fördern beabsichtigten, als äußerst nützlich erweist. Sie üben nicht nur eine vorbereitende Arbeit aus, die den Staatsmännern, welche an diesem Aufbau arbeiten, nützliche Hinweise gibt, sondern erfüllen die neue Generation mit dem europäischen Ideal und tragen deshalb in starkem Maße dazu bei, daß sie zu den besten Hütern des gemeinsamen Erbes werden, das wir ihnen hinterlassen.
Ich spreche deshalb der Stiftung des Internationalen Karlspreises meine aufrichtigsten Wünsche für einen immer größeren Erfolg ihrer Ziele aus und erneuere Ihnen, Herr Oberbürgermeister, und der Stadt Aachen für die mir heute erwiesene Gastfreundschaft meinen Dank.